Wahlkampf wie in einem fremden Land

Beim Wahlkampf in den fünf neuen Bundesländern versagten die im Westen Deutschlands ausgefeilten Strategien/ Deutlich fehlte der Bezug zur politischen Kultur der ehemaligen DDR/ Mancher Losverkäufer oder Gemüsehändler zog mehr Publikum an als die Spitzenkandidaten der Parteien „Wir müssen im vereinigten Deutschland erst noch mit einer uns allen unbekannten Dimensionen von Ungleichzeitigkeiten leben lernen“  ■ Von Peter Grafe

Was immer im Westen an ideologischen Differenzen zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien real oder inszeniert dargeboten wird — für die Parteien im Osten ist es im Grunde ohne Bedeutung. Auch die erst wenige Monate bestehenden und schon wieder aufgelösten neuen Volkskammerfraktionen vermittelten ein im westlichen Sinne sehr verwaschenes Parteienprofil.

Reagieren die Parteien im Wahlkampf auf Wählerwünsche, so können sie eigene Vorstellungen nur „überbringen“, wenn sie Botschaften setzen, die mit diesen Wählerwünschen korrespondieren, ihnen eine Richtung geben, Lösungen aufzeigen. Die Wählerwünsche im Osten waren indes so einfach und eindeutig an der Verbesserung der sozialen Lage, an Arbeitsplätzen und ausreichender Rentenhöhe orientiert, daß alle Parteien genötigt waren, entsprechende Lösungsmöglichkeiten anzubieten.

Für die Darstellung unterschiedlicher Qualifikationen für diese Aufgaben fehlten allerdings jegliche Voraussetzungen, denn diese Unterschiede können nur aus der Erfahrung mit der politischen Praxis gelernt werden.

Im Alltag eine Art Allparteienkoalition

Die Landtagswahlen in den fünf neuen Bundesländern hatten keinen Vorlauf vergangener Legislaturperioden, in denen sich so etwas wie ein Parteiprofil hätte herausbilden können. Es gab und gibt im Osten nur ein über die Medien vermitteltes Bild von den Westparteien und ihrer führenden Personen. Die Politiker im Osten haben noch immer wenig konkrete Vorstellung über den Parteienalltag im Westen. Die Orientierung erfolgte intuitiv, war eher an persönlichen Imaginationen oder an zufälligen persönlichen Kontakten orientiert als an politischer Praxis des Westens.

Nicht umsonst betonte der CDU- Spitzenkandidat in Brandenburg, Peter-Michael Diestel, in allen gemeinsamen Auftritten ständig die große Übereinstimmung mit dem SPD-Kandidaten Manfred Stolpe. Diestels Vorstellungen von Sozialpolitik und staatlicher Intervention mögen weniger konkret sein als die Stolpes, doch ideologische Unterschiede lassen sich nicht erkennen. Selbst die Spitzenkandidatin der FDP vertrat Auffassungen, die den Parteivorsitzenden Lambsdorff mehr beunruhigen müßten als die Sozialdemokraten.

Sozial, christdemokratisch oder liberal werden von den jeweiligen Parteivertretern im Osten jene politischen Vorhaben bezeichnet, die sie gerade für richtig, wichtig und notwendig erkannt haben. Ob diese Zuordnung mit westlicher Politgeografie etwas zu tun hat, bleibt dabei ohne Bedeutung. Bei rhetorischer Ausgrenzung der PDS und angesichts der übergroßen Probleme hat sich im Alltag eine Art Allparteienkoalition gebildet, in der eher persönliche Vorlieben einzelner zu Abweichungen führen als parteipolitisches Kalkül und wirklich differierende Konzepte.

Daher ist das parteipolitische Profil im Osten für Westler so unberechenbar, schienen im Wahlkampf die gewohnten Unterschiede kaum auszumachen. Die westlichen Parteizentralen versuchten Unterschiede zu inszenieren, die allerdings von den Ost-Kandidaten nur sehr zögerlich vertreten wurden.

Für erfolgreiche Wahlkämpfe im Westen ist es unerläßliche Voraussetzung, auf beständige politische Kommunikation bauen zu können. Die beiden Wahlkampfstrategen der großen Parteien, Peter Radunski (CDU) und Bodo Hombach (SPD), sind sich darüber einig, daß im Wahlkampf nur Botschaften transportierbar sind, die in den Jahren davor „gepflanzt“ worden sind — soweit die Parteien überhaupt zu aktiver Kommunikation imstande sind.

Oppositionsparteien benötigen im Wahlkampf immer eine Stimmung in der Bevölkerung gegen Defizite der bisherigen Regierungspolitik, um einen Wechsel begründen zu können. Gibt es in weiten Bevölkerungkreisen keine Stimmung für einen Wechsel, so kann die Opposition strampeln, wie sie will, Argumente auftun und verbreiten, glaubwürdige Kandidaten aufbieten — dennoch bleibt alles vergebliche Mühe.

Die Regierungspartei kann vor Wahlen auf die Erfolge der von ihr getragenen Regierung verweisen (so sie welche vorzuweisen hat), baut auf den Amtsbonus des Spitzenkandidaten und bietet im Grunde nur die Fortsetzung bisheriger Arbeit an: „Weiter so“ ist immer das Credo einer Regierungspartei.

All diese Standardrollen konnten bei den Landtagswahlen im Gebiet der ehemaligen DDR nicht eingenommen werden: Es gab keine Landespolitik, an der man sich reiben oder deren Fortsetzung man anbieten konnte. Es gab noch nicht einmal rudimentäre Vorstellungen in der Bevölkerung über die Aufgaben einer Landespolitik, geschweige denn eine Idee davon, was die einzelnen Parteien in Landesangelegenheiten voneinander unterscheidet.

Desinteresse ist mehr als ein Symptom des Überdrusses an den Wahlen

Das ist kein intellektuelles Problem, sondern das Ergebnis mangelnder Erfahrung. Für die Ostdeutschen kam bislang alles Gute und alles Schlechte von ganz oben. Und „ganz oben“, das ist heute die Regierung in Bonn, personifiziert in Helmut Kohl.

Das weitgehende Desinteresse der Ostdeutschen an diesen Landtagswahlen ist weit mehr als ein Symptom für schlichten Überdruß an der zahlreichen Wahlakten in diesem Jahr. Die Volkskammerwahl war die erste freie Wahl in der DDR und mit großen Hoffnungen besetzt; die Kommunalwahl war verbunden mit dringenden Wünschen auf Verbesserung der unmittelbaren Lebensverhältnisse — bei diesen Wahlen war die hohe Wahlbeteiligung verständlich.

Wozu diese Landtagswahlen aber gut sein sollten, war für einen Großteil der betroffenen Bevölkerung erst einmal unerfindlich — insbesondere angesichts der für die ehemaligen DDR-Bürger völlig neuen Erfahrung Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit.

Rudimentäre Kenntnisse der ganz anderen Kommunikation

Das Desinteresse an den Landtagswahlen zeigte sich auch daran, daß oft ein Losverkäufer oder Gemüsehändler mehr Publikum um sich scharen konnte, als der jeweilige Spitzenkandidat von SPD oder CDU, daß ein Großteil des Straßenpublikums an einem, selbst mit ordentlicher Lautsprecheranlage ausgestattetem Spitzenpolitiker völlig achtlos vorbeilief, ohne auch nur aufzuschauen um festzustellen, wer denn da redete.

Was immer im Westen an Kenntnissen und Bedürfnissen vorausgesetzt wird, um für die Wahl der eigenen Partei aufzurufen, konnte im Osten nicht funktionieren. Zwar gab es einige wenige bekannte Politiker wie Biedenkopf, Stolpe oder Diestel, doch auch sie konnten nicht auf eine gewachsene politische Kultur bauen, in der es möglich gewesen wäre, sich in der Kommunikation mit den Wählern auf auch nur einigermaßen gesichertem Terrain zu bewegen.

Im ostdeutschen Wahlkampf begegneten sich Kommunikationsprofis aus dem Westen, die nur wenig Vorstellungen von den realen Befindlichkeiten der ehemaligen DDR- Bürger hatten, und Politiker der neuen Bundesländer, die über nur rudimentäre Kenntnisse von westlichen Kommunikations- und Wahlkampftechniken verfügten. Die Zusammenarbeit dieser beiden Gruppen konnte nur von Mißverständnissen und wechselseitigen Animositäten begleitet sein. Die scheinbar gemeinsame deutsche Sprache konnte die Unterschiede nicht überbrücken.

Alle Regeln westlicher Wahlkampfkunst mußten daher im Osten versagen, da ihr der unerläßliche Bezug zu einer politischen Kultur fehlt, der im Westen selbstverständlich ist, zu der Befindlichkeit der Bevölkerung, für deren Erforschung im Westen in Jahrzehnten zwar geeignete Instrumente entwickelt worden, für den Osten aber nur sehr eingeschränkt tauglich waren. Wie auch sollten sich gelernte Wessis auf eine Gesellschaft einstellen können, die sie längst hinter sich gelassen hatten — von den Besonderheiten ganz abgesehen, die vierzig Jahre „real existierender Sozialismus“ hinterlassen haben.

Die sogenannte Bedürfnispyramide im Osten entspricht weitgehend der westlichen zu Beginn der sechziger Jahre. Was heute im Westen als modern und ansprechend gilt, geht im Osten an den Gefühlen der Menschen vorbei. Visualisierte Botschaften funktionieren aber auch im Wahlkampf nur auf der Basis kulturell geprägter Wahrnehmungsmuster. Wir müssen im vereinigten Deutschland erst noch mit einer uns allen unbekannten Dimension von Ungleichzeitigkeiten leben und umgehen lernen.

Die Eigenarten der DDR-Geschichte machen insbeondere der SPD das Leben schwer. Wichtige sozialdemokratische Begrifflichkeiten wie Solidarität, Perspektive, staatliche Planung sind diskreditiert, die in der alten BRD wichtigen Bündnispartner wie Gewerkschaften und Betriebsräte fallen noch immer völlig aus oder werden negtiv mit dem alten System assoziiert. Diese kommunikative Problematik machte insbesondere den beiden Repräsentanten des alten sozialpolitischen Flügels, Anke Fuchs und Friedhelm Farthmann, zu schaffen, die sich in Sachsen beziehungsweise Thüringen als SPD-Spitzenkandidaten bewarben.

Das Vokabular, mit dem man im Westen eine Gewerkschafterversammlung begeistern kann, erntet im Osten nur wenig Beifall, sei es, weil es zu unkonkret oder zu weit weg von den akuten Sorgen der Angesprochen ist. So war Regine Hildebrandt zum Beispiel viel authentischer besorgt, als es der „Westimport“ Anke Fuchs je sein könnte.

Lafontaine — ein unverständlicher Repräsentant

Je drängender sich westliche Sozialdemokraten als Retter in der Not anpreisen, desto schneller wenden sich die Ostbürger ab. Je näher ein Sozialdemokrat an den real existierenden Problemen entlang argumentiert, ohne wirklich innerlich beteiligt zu sein — beziehungsweise als beteiligt erlebt zu werden — desto stärker schürt er bei den Zuhörern den Verdacht, daß sie wieder einmal über den Tisch gezogen werden sollen.

Bislang waren die Gewerkschaften und die betrieblichen Gewerkschaftsvertreter der verlängerte Arm der SED und weit davon entfernt, im westlichen Sinn Interessenvertreter zu sein. Deshalb möchte ich die These wagen, daß die SPD bei der Arbeiterschaft im Osten Deutschlands erst dann eine dem Westen vergleichbare Stellung einnehmen kann, wenn dort gewerkschaftliche Arbeit im westlichen Sinne zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Lafontaines Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften im vergangenen Jahr waren westliche Auseinandersetzungen um zeitgemäße politische und gewerkschaftliche Konzepte — mit der Wirklichkeit des Ostens haben diese Debatten nichts zu tun und sind dort auch unverständlich. Dort müssen die Gewerkschaften überhaupt erst beweisen, daß sie für die Verbesserung der Lebensverhältnisse eine wichtige Funktion erfüllen, bevor die Bevölkerung des Ostens sich zur Erörterung strategischer Konzepte bereitfindet.

Lafontaine ist ein im Osten unverständlicher Repräsentant des unbekannten Westens, eines Lebensgefühls und eines Lebensstils mit der zugehörigen Wertehierarchie, die im Osten noch nicht einmal die regelmäßig West-TV Konsumierenden nachvollziehen können.

Helmut Kohl hingegen mag im Westen nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit erscheinen, im Osten wirkt er als Garant für die Erfüllung des einfachen Wunsches nach wachsendem Lebensstandard — ohne zugleich die Bedrohung komplexer Veränderungen zu vermitteln.

Kohl vermittelt Optimismus, und der ist ein wichtiger Strohhalm angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage. Kohl vermittelt zusätzlich das Gefühl, die Verwicklungen der ehemaligen DDR-Bürger mit ihrem alten System gnädig zu überdecken. Ihm genügt die Anpassung an die neuen Verhältnisse, er fordert keine Katharsis, keine unbequeme Aufarbeitung.

Zu den umworbenen Westprodukten gehört auch der Kanzler

Den Ostdeutschen wurde mit dem Ende des DDR-Systems alles genommen, was bis dahin wichtig war und Orientierung bot. Der Trabbi repräsentierte einst gesellschaftlichen Reichtum, heute ist er ein Haufen Schrott und stinkt gotterbärmlich, und ward plötzlich Symbol einer zurückgebliebenen Gesellschaft. Gewisse soziale Sicherheit und berufliche Qualifikation sind fast über Nacht nichts mehr wert, die bekannte soziale Verortung ist aufgehoben, Verunsicherung und Identitätsschwierigkeiten sind die Folge.

So wird verständlich, daß die „Ossis“ sich erst einmal an westliche Wohlstandsgüter halten, um möglichst schnell in der neuen Situation wieder dazuzugehören, daß sie sich schnellstmöglich ein Westauto kaufen, wenn irgend möglich nur noch Westprodukte konsumieren und den dazugehörigen Kanzler wählen. Jede andere Neuorientierung hätte die Möglichkeit zu neuer Erfahrung und zur Verarbeitung derselben erfordert, doch mit dem Sturz in die Einheit blieb für einen sanften Übergang keine Zeit.

Für das Wahlkampfteam der SPD in Brandenburg war klar, ein gemeinsamer Wahlkampf in allen neuen Bundesländern mußte ein Wahlkampf gegen Kohl werden und war nicht zu gewinnen. Die einzige Chance der Sozialdemokraten in diesem Bundesland bestand darin, sich ganz speziell auf Brandenburg zu konzentrieren, deutlich zu machen, daß dieses neue Land wichtig wird, und damit auch die Wahlen und die personellen Alternativen in diesem Land bedeutsam sind — unabhängig davon, was die zentrale Wahlkampfleitung der SPD sich für alle sonstigen Bundesländer ausgedacht hatte, unabhängig auch von der Frage, wer denn ab Dezember in Bonn Bundeskanzler sein wird.

Der Gegenkandidat Diestel war als DDR-Innenminister mit der Stasi-Auflösung und seinem zwar legalen, politisch aber instinktlosen Hauskauf ins Gerede gekommen. Die CDU tat zwar, als ginge es überhaupt nicht um ihren Spitzenkandidaten, und beklebte die Werbegroßflächen mit Helmut Kohl, doch konnte sie die Debatte um Diestels Person nicht stoppen. Damit war ihr eigentliches Thema „Deutschland“ nicht mehr durchzusetzen. Gerade weil die Parteien in Brandenburg in ihren Konzepten und Konturen keine bedeutenden Unterschiede boten, konnte die Qualität der Spitzenkandidaten zum Thema werden.

Peter Grafe arbeitet als freier Journalist in Köln und war in der heißen Wahlkampfphase Pressereferent des SPD-Spitzenkandidaten (und Wahlgewinners) in Brandenburg, Manfred Stolpe.