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„Nahezu wie in Stammheim“

■ Menschen im Bunker — Fragen an den Psychologie-Professor Thomas Leithäuser

taz: Seit gestern leben sechs Asylsuchende in einem Bremer Bunker. Leben im Bunker heißt Leben ohne Tageslicht und Leben ohne natürliche Umwelt. Wie reagiert die menschliche Psyche darauf?

Thomas Leithäuser: Zunächst muß man wohl davon ausgehen, daß sich diese Menschen frei bewegen können und deshalb auch den Bunker verlassen werden. Trotzdem treten unter solchen Lebensbedingungen Deprivationsphänomene und Depressionen auf.

Was sind Deprivationsphänomene?

Das sind psychische Schäden, die dann auftreten, wenn die Einflüsse der natürlichen Umwelt minimiert werden, ein Mangel an äußeren Reizen.

Wie äußert sich das?

Das sind nahezu die gleichen Symptome, wie sie auch im Hochsicherheitstrakt in Stammheim bei den Gefangenen beobachtet worden sind. Man muß dabei besonders berücksichtigen, daß es sich ja bei diesen Asylsuchenden um Menschen handelt, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Für diese Menschen ist es eine Zumutung, im Bunker ein Gefühl der Eingeschlossenheit vermittelt zu bekommen.

Erklären Sie das bitte noch etwas genauer: Wie äußert sich das?

Unter solchen Lebensumständen werden ganz sicher Kontaktstörungen begünstigt. Konflikte untereinander sind kaum auszuschließen, unkontrollierte Aggressionen, Isolation des einzelnen und natürlich auch der ganzen Gruppe. Charakteristisch für die Deprivation sind psychosomatische Störungen: Der seelische Druck wirkt sich auf den Körper aus.

Wie lange kann ein Mensch unter solchen Bedingungen leben, ohne seelischen Schaden zu erleiden?

Das kommt ganz auf die psychische Konstitution jedes einzelnen an.

Ein ganz zentraler Punkt ist hierbei die Ungewißheit, in der diese Menschen leben. Wenn man ihnen sagen würde, du mußt für 14 Tage hier herein, weil wir nichts anderes haben, dann wäre das bestimmt noch auszuhalten. Aber die Ungewißheit, in einem Bunker möglicherweise ein halbes Jahr oder länger leben zu müssen, wird viele in tiefe Depressionen stürzen.

Ist eine solche Unterbringung mit der angeblichen Unantastbarkeit der Menschenwürde noch vereinbar?

Das ist sie sicherlich nicht. Die Leute, die das geplant haben, haben offenbar nicht richtig nachgedacht. Man muß bei solchen Entscheidungen doch auch die sozialpsychologischen Effekte berücksichtigen: Eine Gruppe, die durch ihre Lebensbedingungen dermaßen stigmatisiert wird, ist doch von vornherein mit Vorurteilen und Diskriminierungen behaftet.

Diese Art der Unterbringung fördert ganz ohne Zweifel die Ausländerfeindlichkeit. Unsere historische Erfahrung sollte uns doch gelehrt haben, daß Gebäude mit Gefängnischarakter kaum geeignet sind, den multikulturellen Anspruch unserer Gesellschaft einzulösen.

Fragen: Markus Daschner

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