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Eine Blechlawine überrollt Alpendörfer

Im europäischen Verkehrsknotenpunkt Österreich mehrt sich der Widerstand/ Bundesregierung in Wien will Autobahnen  ■ Aus Salzburg Martin Lettmayer

„Es ist ein Wahnsinn! Manchmal braucht man zum Überqueren der Straße zehn Minuten. So wie es jetzt ist, wenn man in der Nacht kaum schlafen kann, ist es unerträglich.“

Vor zwei Jahren noch beklagten sich die Bewohner der Grenzdörfer in Niederösterreich, Oberösterreich und im Burgenland über ihre Abgeschiedenheit am Eisernen Vorhang. Die jungen Menschen zogen weg. Zurück blieben verwaiste Höfe und Geisterdörfer, die sich von denen jenseits des Grenzzauns wenig unterschieden. Kaum Leben auf der Straße, nur manchmal sah man ein altes Pärchen auf einer Hausbank sitzen. Da und dort kratzte eine Bauersfrau mit einer Harke in der Erde, die Nebenerwerbsäcker bestellend.

Die Ereignisse in Europa haben das Leben der Menschen in den Straßendörfern an den einst unbefahrenen Sackgassen Richtung Osten nachhaltig verändert. Aus der Randlage rückte man ins Zentrum. Die Leute begannen von Fremdenverkehr, von Investitionen und Arbeitsplätzen zu träumen. Doch aus den Träumen vom besseren Leben wurde ein Alptraum, ähnlich wie im transitbelasteten Alpenraum. Unerträglicher Durchgangsverkehr hat schlaflose Kinder, belastete Muttermilch, Lärm zur Folge. Blei, Stickoxide, Ruß verpesten die Landschaft.

Seit dem Fallen der Mauern quer durch Europa hat der Osten Österreichs ähnliche Verkehrsprobleme wie der Westen. Die Prognosen „versprechen“, daß man dem Westen bald um nichts mehr nachstehen werde. Tausende Autos quälen sich schon heute täglich durch die Dörfer. Allein der Einreiseverkehr aus Ungarn hat sich im letzten Jahr verdoppelt (auf 9,4 Millionen). Bald werden es um ein Vielfaches mehr sein, prophezeit das österreichische Verkehrsministerium.

Die Bundesregierung in Wien sieht das Heil in Autobahnen. Im Niederösterreichischen Traiskirchen soll die von Ungarn kommende A 3 an die Südautobahn (A 2) angebunden werden. Zum Teil soll dieses Straßenmonster achtspurig geführt werden. Im Osten des Landes drohen dieselben Fehler gemacht zu werden wie im Westen. Straßen ziehen Verkehr an. „Als man 1972 die Brennerstrecke eröffnete, hat auch niemand mit diesem Appetit auf Verkehr gerechnet“, gibt der Wiener Verkehrsprofessor Hermann Knoflacher zu bedenken. Aber nach dem Willen der Regierung soll der Osttransit ab 1994 auf dieser Strecke rollen: Der Osten will am europäischen Straßennetz angebunden sein.

Der heurige Sommer hat die österreichische Transitmisere schonungslos aufgedeckt. Die etwa eine Million LKW-Fahrten auf der Strecke Kufstein-Brenner, etwa zwei Drittel aus der BRD und Italien, der Reiseverkehr deutscher Urlauber, der Transit auf der Tauernautobahn haben die Zumutbarkeitsgrenze für Mensch und Umwelt bereits überschritten. Als durch den Beinahe- Einsturz der Inntalautobahn, einer der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen Europas, das Verkehrschaos perfekt war, und sich die Transitlawine einen Weg durch die Alpendörfer suchte, folgten der jahrelangen wütenden Ohnmacht der Anwohner noch wütendere Proteste, Straßensperren, Demonstrationen. Waldsterben, Hangrutsche, Hochwasser, Muren, Lawinen: das Siechen des Alpenraumes rückte zunehmend ins Bewußtsein der Bevölkerung und der Landespolitiker. 18 Millionen DM muß allein Tirol im laufenden Jahr für die Sanierung des Schutzwaldes aufbringen. Deswegen solidarisierten sich die westlichen Bundesländer Tirol, Salzburg und Vorarlberg und ließen die Schlagbäume herunter. Transitgipfeltreffen wurden einberufen, um die Güterbeförderung nicht ganz zum Erliegen zu bringen. Dem Transitgipfel folgte der Transitkompromiß mit Bayern, der jedoch nicht lange hielt, weil Italiens Verkehrsminister Bernini nicht mit den vereinbarten 222.000 Fahrgenehmigungen auskommen will.

Seit zwei Wochen sind die Grenzen wieder dicht, ein Ende der Blockaden ist nicht absehbar. Der österreichische Verkehrsminister Rudolf Streicher will sich nicht in die Knie zwingen lassen. Die von der EG geforderte uneingeschränkte Wahl des Verkehrsmittels sei ein europäischer Kollektivirrtum. Der italienische Außenminister Gianni de Michelis hingegen droht unverhüllt: „Wenn Österreich in die EG will, muß es die Spielregeln akzeptieren!“ Dies sei ausgeschlossen, sagt Streicher. Er will die Lastwagen verstärkt auf die Schiene zwingen. Ob ihm das gelingt, ist angesichts der EG-Verkehrspolitik fraglich. Der EG-Binnenmarkt und die Öffnung im Osten lassen in Österreich Transit-Steigerungsraten von 140 Prozent erwarten.

Nicht nur die Grünen warnen deshalb vor dem bevorstehenden Ökokollaps und Verkehrsinfarkt. Die Ökopartei fordert eine europäische Lösung. „Die Gesundheit der Nachbarn ist genauso wichtig wie die eigene.“ Aber was tun, fragen sich die Umweltschützer, wenn den Nachbarn sogar ihre eigene Gesundheit gleichgültig ist.

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