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Verhalten von Mumien beim Zutritt von Luft

■ Zur Veröffentlichung westdeutscher Autoren im 'Neuen Deutschland‘

Aus der Ostberliner Richtung hatte ich als Autor nicht viel zu erwarten. Wenn ich umständlich, aber ungeschoren ein- und ausreisen durfte, nach Frohburg, Altenburg, Tautenhain, auf den Spuren halbvergessener Menschen und Stoffe, mußte ich schon zufrieden sein. Bis in die ersten Monate des laufenden Jahres 1990 ist jedenfalls keine Zeile Prosa von mir in der DDR erschienen, nie habe ich in den Gegenden, in denen ich aufgewachsen bin und von denen ich auch erzähle, aus meinen Büchern vorlesen dürfen. Selbst die Genehmigung eines Auswahlbandes der Gedichte wurde mir nur hinter vorgehaltener Hand in Aussicht gestellt: Wir arbeiten daran. Jahrelang ist nichts draus geworden, bis zuletzt.

Vor diesem Hintergrund habe ich schon im Februar die nächstbeste Gelegenheit ergriffen, einen Leseabend in Leipzig zu machen. Ohne große Gedanken über Herkommen des Veranstalters, Art des Saales, Zusammensetzung des Publikums. Ich wollte meine Bücher, meine Arbeiten ausbreiten, indem ich den Zuhörern vorlas, was bisher nicht vorgelesen werden sollte.

Vergangenen Sommer dann fragte mich, beinahe in Fortführung solcher Möglichkeiten, der Schriftsteller Karl-Heinz Jakobs nach einer Erzählung für die von ihm redigierte Seite „Sonntagsgeschichte“ im Ostberliner 'Neuen Deutschland‘. Diese Seite gehe auf eine jüngste Anregung von ihm zurück, er sei völlig frei in der Gestaltung.

Ich hatte den Zerfall der SED vor Augen („Verhalten von Mumien beim Zutritt von Luft“) und die Umwandlung des alten Zentralorgans in eine „Sozialistische Tageszeitung“ und überließ nach einer Schrecksekunde von der Länge einer knappen Woche Karl-Heinz Jakobs die im Westen gedruckte Erzählung Steinzeitsommer. Diese Erzählung ist mir noch Jahre nach ihrer Niederschrift nahe, unter der Chiffre: „Nie wieder ging etwas so tief“, macht sie den Versuch, Erlebnisse meiner Frohburger Kinderzeit mit allgemeiner DDR-Politik der fünfziger Jahre zu verbinden: Agentenfurcht, Kirchenverfolgung, 17. Juni.

Hinter meiner Bereitschaft stand die Überzeugung, daß nach den Zeiten des Desinteresses hier und des Drucks und der Formierung dort etwas anderes kommen müsse und kommen werde, vor allem eine Phase des Gesprächs. Wenn wir in Zukunft, beladen mit unseren Erfahrungen aus Ostwelt und Westwelt, in einem Land leben und arbeiten wollen, müssen wir miteinander sprechen. Das Gespräch aber braucht Themen, Anrührungen und Sprachbeispiele, alles das, dachte ich, liefere vielleicht, in irritierender anspannender Abwechslung, ein kleines Stück Prosa dort, wo bis vor kurzem weit Schlimmeres als nur tönende Monotonie herrschte.

Nun, eine Woche vor der Wiedervereinigung der beiden Landesteile, deren Trennung ich als Heranwachsender erlebt und ein bißchen auch erlitten habe, merke ich, daß der Abdruck meiner Erzählung in jener Zeitung ebenso wie das ganze Jakobssche Unternehmen einigen Unmut hervorruft. Unmut im Osten, bei den Ziehkindern vergangener Obrigkeit, Unmut leider aber auch bei einigen unserer Schriftstellerfreunde im Westen. Das geht bis zum Vorwurf fehlender Moral. Wir selber seien, zumindest mündlich, die schärfsten Kritiker der Zustände in der DDR gewesen (oder hätten, im Fall Jakobs', bis hin zur Exilierung unter diesen Zuständen gelitten), und nun würden wir, trotz hinlänglicher Kenntnis kommunistischer Anpassungstaktik, durch die Überlassung von Abdruckrechten gestatten, daß sich das 'Neue Deutschland‘ mit unseren Namen schmücke und so Entlastung erlange.

„Vergessen wollen heißt sich immer erinnern müssen.“ Mit dem unterstellten Kalkül einer Anpassung zum Schein könnten sich Zeitung und Redaktion, wenn sie auch wollten, nicht aus der Verantwortung entlassen. Überall in Bibliotheken und Archiven sind die Nummern des 'Neuen Deutschlands‘ gesammelt. Und da sie im Gegensatz zu den Stasi-Akten nichts brisant Neues enthalten, sind sie auch nicht im Bestand gefährdet. Jedermann wird weiter nachlesen können, was diese Zeitung war und wem sie gedient hat.

Was sind in diesem Zusammenhang ein paar Schriftstellernamen, die über den Spalten auftauchen! So billig ist die Zukunft nach Jahrzehnten prononciertester Einseitigkeit nicht zu gewinnen. Es sei denn, man machte aus der Vielfalt über das Beispiel hinaus ein Prinzip. Als Hilfeleistung in dieser Richtung ist meine Abdruckgenehmigung auch zu verstehen.

Meine Hauptgedanken in der Sache galten und gelten aber gar nicht dem 'Neuen Deutschland‘. Das muß, wie die PDS auch, selber sehen, wie es in einer offenen Gesellschaft gegen Ende des letzten Jahrhunderts des alten Jahrtausends zurechtkommt. Was mich wirklich interessiert und beschäftigt, sind die Menschen. Ihre Gedanken, Meinungen, Empfindungen, ihre Welt-Anschauungen. Vielleicht kann das, was ich zu erzählen habe, und die Art, wie ich es erzähle, dabei mithelfen, daß in einer Zeit der rasanten äußeren Bewegung, die manchen innerlich zu verschütten droht, einige Landmarken aufgerichtet werden, „Mitleid, Trauer und Empörung“, über die sich sprechen ließe, über die man sich verständigen könnte.

Die Volksarmee ab 3. Oktober in den Uniformen der Bundeswehr. Das klingt wie ein Witz. Vor dem Hintergrund der letzten vierzig Jahre ist der Uniformtausch ein ungeheuerlicher Vorgang. Banal und stark irritierend. Nachdem ich die Ankündigung in der Zeitung gelesen hatte, holte ich mir aus dem Regal den Roman Fassonschnitt von Jürgen Fuchs und las das Kapitel noch einmal, in dem der Erzähler seinen ersten Tag in der Volksarmee beschreibt.

Von diesem Kapitel (und von manch anderem, nicht nur von Fuchs) wünsche ich mir, daß es nächste oder übernächste Woche im 'Neuen Deutschland‘ steht. Dort vor allem. Guntram Vesper

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