: „Die ausgestreckte Hand der Juden annehmen“
■ Bonner Debatte über Einreisestopp sowjetischer Juden/ Außer CDU/CSU alle für unbürokratische Lösung
Berlin (taz) — Die Bundesregierung hält an dem zwei Monaten verhängten faktischen Einreisestopp für sowjetische Juden fest. Die Fraktion Die Grünen/Bündnis 90 sehen darin ein „schlimmes Vorzeichen“ und fordern die unbürokratische Aufnahme aller. Dietrich Wetzel (Grüne) erklärte am Donnerstag in Bonn anläßlich einer Aktuellen Stunde im Bundestag, Juden seien in Deutschland niemals Ausländer gewesen: „Die Vorfahren der osteuropäischen Juden wanderten — wie übrigens auch viele Nichtjuden — vor allem aus dem Rheinland nach Osten.“ Wetzel erinnerte daran, daß leicht der entsetzliche Gedanke aufkommen könne, „die Deutschen wollen schon wieder einen ,judenreinen‘ Staat“. Nächste Woche wollen die Grünen noch einen Antrag zu dieser Problematik einbringen und hoffen, daß daraus ein interfraktioneller Antrag wird. Die SPD hält die Anweisung des Innenministeriums, Aufnahmeanträge jüdischer Bürger nicht weiter zu bearbeiten, ebenfalls für nicht akzeptabel. Peter Glotz (SPD) erklärte, daß es das mindeste sei, nicht kleinlich herumzurechnen, wenn Juden in das Land des Holocaust zurückkommen oder kommen, „sondern die Probleme unbürokratisch und möglichst lautlos lösen“, und zwar in enger Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden. Sicherlich sei die BRD überfordert, wenn sich zwei Millionen Juden, die noch in der Sowjetunion leben, für Deutschland entschieden. Davon könne auch keine Rede sein. Die ehemalige DDR habe in den letzten Monaten 1.000 sowjetische Juden aufgenommen, die Bundesrepublik 400. Nach Informationen der taz wurden 2.500 Juden aus der UdSSR in der DDR aufgenommen, knapp 350 in der BRD einschließlich Berlin-West. Die Quote der Vereinigten Staaten liege jetzt bei etwa 40.000. „Wir Deutschen sollten uns in dieser Frage nicht von den Amerikanern beschämen lassen“, forderte Glotz.
Der FDP-Abgeordnete Burkhard Hirsch verlangte, „ernsthaft und seriös festzustellen“, wieviele angemessene Aufnahmemöglichkeiten von den Bundesländern jährlich zur Verfügung gestellt werden könnten. Denn „wir können kein Interesse daran haben, daß bei einem unkontrollierten plötzlichen Zuzug von Zehntausenden die Gemeinden die Unterbringungsfrage nicht lösen könnten“. Hirsch hofft mit einer Zuwanderung auch auf eine Wiederbelebung der jüdischen Gemeinden.
Dem stimmt Michael Friedmann, Mitglied des Vorstandes der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main, zu. Der Zentralrat der Juden und alle Jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik lehnen jede Form der Quotierung von Juden, die nach Deutschland kommen wollen, ab. Dies sei ein Zeichen der „Peinlichkeit“ sowie „mangelnde Sensibilität und Geschichtsbewußtsein“. Es dürfe „gar kein Wenn und Aber geben, die ausgestreckte Hand der Juden anzunehmen“. Michael Guttmann, Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, meint, daß Deutschland die moralische Verpflichtung habe, mindestens 600.000 sowjetischen Juden aufzunehmen. 1933 lebten in Deutschland knapp 750.000 Juden. In Hessen und Nordrhein- Westfalen gebe es bereits erste Ansätze eines unbürokratischen Aufnahmeverfahrens.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen