KOMMENTAR
: Gefährliche Spekulationen

■ Antisemitismus im polnischen Präsidentschaftswahlkampf

Kann eine Pole jüdischer Herkunft Premier oder gar Präsident werden? Als ich anläßlich der Nominierung des ersten Solidarność- Ministerpräsidenten 1989 diese Frage aufwarf, erntete ich seitens eines jüdischen Freundes in Warschau nur ein mitleidiges Lächeln. Tatsächlich wurde nicht Broneslaw Geremek, Solidarność-Experte der ersten Stunde, aber leider „schlecht geboren“, zum Premier bestellt, sondern Tadeusz Mazowiecki, auch er Berater der Solidarność, aber gut katholisch.

Heute gibt es in Polen Leute, die auch Mazowiecki „verdächtigen“. Er sei vom Judentum konvertiert, getauft und habe seinen Namen gewechselt. Als Mazowiecki kürzlich auf einer Wahlkampfveranstaltung in Krakau gefragt wurde, welcher Abstammung er sei, bat der Versammlungsleiter das Publikum, zu entscheiden, ob der Ministerpräsident diese Frage beantworten solle. Einmütig wurde das Ansinnen abgelehnt. Die Nicht- Antwort zeugte von politischer Kultur und Toleranz, war Ausdruck des Wunsches, sich für das friedliche Zusammenleben aller Polen einzusetzen — seien sie nun polnischer, ukrainischer, deutscher oder jüdischer Herkunft. Was hingegen anwortete Lech Walesa auf diese Frage (obwohl sie gar nicht an ihn gestellt worden war)? Er sei ein hundertprozentiger Pole, ebenso wie seine Vorfahren und könne dies auch dokumentarisch belegen. Walesa bestreitet entschieden jeden antisemitischen Unterton in dieser Äußerung und weist die Anschuldigung, Antisemit zu sein, als böswillige Unterstellung westlicher Journalisten zurück. Mag sein. Aber Walesa unterläßt es nicht nur, dem unverblümten Antisemitismus entgegenzutreten. Er appeliert auch an antisemitische Vorstellungen und Wünsche. Wenn es gegenwärtig in Polen Antisemitismus gebe, so sagt er, wäre dies die Folge der Undurchsichtigkeit der noch geltenden Herrschaftsverhältnisse. Unter seiner Führung würde das Regierungssystem transparent sein und jeder werde wissen, wer wer sei. Als ob dies die entscheidende Frage sei und nicht die, wer was tut!

Unter dem Druck der katholischen Kirche hat die Regierung Mazowiecki in Kernfragen der Demokratie bereits allzuviele Kompromisse geschlossen. Aber gegenüber Nationalismus und Antisemitismus verteidigt sie das Konzept eines aufgeklärten und demokratischen Polentums. Das wird bei der Präsidentschaftswahl Stimmen kosten. Wenn schon — manchmal gibt es Wichtigeres, als eine Wahl zu gewinnen. Ruth Henning

Die Autorin ist Grafikerin und Soziologin. Sie lebt in Warschau.