: Kaum zu glauben
■ betr.: "Das kann nur Gott sein oder die CIA", taz vom 24.10.90
betr.: „Das kann nur Gott sein oder die CIA“, taz vom 24.10.90
(...) Kaum zu glauben, mit welcher Ignoranz und noch dazu völlig unkommentiert über die Ursachen von sog. Psychosen berichtet wurde. Da konnte ich lesen, daß das Attentat auf Innenminister Schäuble darauf zurückzuführen sei, daß der Attentäter unter einer „paranoiden Psychose“, einer psychiatrischen „Erkrankung“, leidet und daß hierfür eine erbliche Vulnerabilität, die jeweilige Konstitution, traumatische Hirnschäden und toxische Vergiftungserscheinungen in Zusammenhang mit der Einnahme von LSD verantwortlich zu machen seien.
Nichts davon, daß das medizinische Krankheitsmodell in bezug auf ver-rückte Verhaltensweisen nichts anderes darstellt als ein völlig unbewiesenes Glaubenssystem, und daß die eigentlichen Ursachen, für das, was ver-rückt macht, durch diese psychiatrische Ideologie völlig ausgeblendet werden. Schließlich wird man nicht ver-rückt geboren, sondern ver-rückt gemacht.
Indem man ver-rückte Verhaltensweisen einer ominösen inneren (...) Krankheit zurechnet, wird eine künstliche Trennungslinie zwischen den „Normalen“ und den Ver-rückten gezogen. Diese Grenze mag für die, welche glauben, „normal“ zu sein und die i.d.R. Angst vor ihren eigenen ver-rückten Impulsen, Gefühlen und Gedanken haben, eine Erleichterung schaffen, obwohl diese niemals vollkommen sein kann, weil niemand vor Ver-rücktheit und psychischem Leiden gefeit ist. Deshalb müssen auch immer wieder neue Gräben und Schutzwälle gegen die Ver-rücktheit, die anscheinend immer nur die anderen haben, errichtet werden. Die Anderen, die Ver-rückten, werden als erblich belastet (dies steckt implizit in den Ausdrücken „vulnerabel, konstitutionell“) einfach ausgegrenzt und kein „Normaler“ muß sich mehr Gedanken darüber machen, warum Menschen durchdrehen, ausrasten, sich rächen wollen und dann eventuell gewalttätig werden.
Es existiert nicht eine spezifische Gewalttätigkeit von Ver-rückten, oder wie Dr. Linden sagen würde, von Psychotikern, sondern es gibt eine allgemeine Gewalttätigkeit von Menschen. Und das Problem der Gewalttätigkeit von Menschen wird man nicht dadurch lösen, daß man bestimmte Menschen, die sich auffällig verhalten und vielleicht durch ihr Verhalten Angst machen, ausgrenzt, als psychisch krank diffamiert, psychiatrisch erfaßt, stigmatisiert und diskriminiert. Und dies geschieht, wenn so getan wird, als wären ver-rückte Handlungen ohne Sinn.
Dr. Linden macht es sich zu einfach, wenn er die Ängste von Menschen, die sich verfolgt fühlen, einfach einer gestörten Wahrnehmungs- und Interpretationsfähigkeit — resultierend aus einem hirnorganischen defekt — anlastet. Es sind immer bestimmte lebensgeschichtliche Ereignisse und reale traumatische Erfahrungen (psychische und körperliche Verletzungen, Mißhandlungen und Mißbrauchserfahrungen, Unverständnis, Unterprivilegierung, Diskriminierung, Benachteiligung, Gewalt etc.), die in ihrem Zusammenwirken zu dem gefühl führen können, verfolgt zu werden, und oft genug wird dieses Gefühl durch die herkömmliche psychiatrische Behandlung noch verstärkt.
Will sich eine Gesellschaft vor individuellen Gewalthandlungen schützen, so muß sie sich mit ihrer eigenen (strukturellen) Gewalt, also mit jenen Bedingungen, die wahnsinnig machen, auseinandersetzen. Klaus Mücke (Dipl.Psych.), Berlin
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