The Electric Kool Aid Cyber Test

In San Francisco fand im Oktober ein Cyberthon statt — ein 24-Stunden-Abenteuer in Virtueller Realität Erste Folge: Die Technik  ■ Von Mathias Bröckers

Ich ist ein anderer“, hatte Arthur Rimbaud die Schwierigkeit der Realitätsfindung beschrieben, „Ich ist ein Verbum“, hatte Buckminster Fuller ein Jahrhundert später richtungsweisend ergänzt — aber was ist, wenn „Ich“ ein achtarmiger Krake ist, ein Hummer, oder, wie in diesem Fall, eine einfache Hand? Zeige- und Mittelfinger ausgestreckt, fliege ich nach vorne, die Hand nach hinten gedreht, und es geht rückwärts, Bewegungen nach oben, unten links und rechts führen in die entsprechenden Richtungen, wenn ich die Hand flach ausstrecke, bleibe ich stehen. Aber was heißt stehenbleiben, was überhaupt heißt „Ich“? Einerseits sitze ich auf einem Bürostuhl der Firma „VPL Research“ in Redwood City, etwa zwanzig Kilometer südlich von San Francisco, andererseits tauche ich — als Hand — gerade mit einem Fingerzeig nach unten in das „Meer von Seattle“: Es rauscht und blubbert, und schon will ich probieren, wie das Auftauchen funktioniert, da wird weiter hinten im Wasser eine Kontur sichtbar. Ein großer Fisch nähert sich, ich versuche, mich an ihm festzuhalten, um mitgezogen zu werden, doch dazu muß ich schnell die Richtung wechseln, noch etwas mehr nach rechts „schwimmen“. Bei dem Manöver überschlage ich mich irgendwie — die famose Zen- Übung, „mit einer Hand“ klatschen zu lernen, scheint eine Leichtigkeit, verglichen mit dem Versuch, „als eine Hand“ schwimmen/fliegen/stehen zu lernen — das Blubbern und Rauschen wird scheinbar lauter, aber der Wal ist aus dem Sichtfeld verschwunden. „Stop, stop, turn back“ — es ist kein Fisch, sondern ein VPL-Mitarbeiter, der ruft.

Ich schiebe das taucherbrillenähnliche „Eye Phone“ nach oben: Die Kabel haben sich verwirrt, bei dem Manöver im Wasser habe ich mich, ohne irgend etwas davon zu bemerken, zweimal auf dem Bürostuhl gedreht — der kybernautische Trip in die Meeressimulation von Seattle endet im Kabelsalat. Auch die Strippen des Handschuhs, des „Data Glove“, haben sich verwickelt — daß „Ich“ mit Brille und Handschuh über etliche Leitungen mit einem Computer verkabelt bin, hatte „Ich“, als Hand im Wasser, völlig vergessen. Aber es wäre ohnehin Zeit gewesen, zurückzukehren — es ist Sonntag, fünf Uhr früh, und draußen wartet das Auto, uns in die Stadt zurückzubringen: zum Sonnenaufgang, zum Frühstück, und zum „Cyberthon“, dem 24-Stunden-Marathon im kybernetischen Raum, an dem wir seit Samstag mittag teilnehmen.

Der Ort des Geschehens ist ein Labyrinth. Mit gebrauchten Sperrholzteilen, Baumaterial und viel schwarzem Tuch haben die Veranstalter, das „Whole Earth Institute“, eine Halle in der Industrieregion von San Francisco in einen Irrgarten verwandelt. Normalerweise produziert die Firma „Colossal Pictures“ hier Trickaufnahmen und Special effects für Hollywood-Filme, jetzt stellt die Halle, in einer abenteuerlichen Mischung aus Low budget und High- Tech, die multifunktionale Bühne für den speziellsten aller denkbaren Effekte dar: Virtuelle Wirklichkeit. „Virtual Reality“, so Howard Rheingold — Journalist, Buchautor und Moderator der Veranstaltung — „ist der Name für eine neue Wissenschaft und Technologie, die weltweit im Entstehen begriffen ist. Vor den Augen montierte Bildschirme schaffen die Illusion eines Eintauchens in computersimulierte Welten, und mit Sensoren ausgestattete Handschuhe machen es möglich, Objekte durch direkten Kontakt zu manipulieren. Es scheint, das VR eine der Technologien ist, die wie der Personal Computer vor zehn Jahren das Potential haben, das Denken, die Arbeit und die Kommunikation der Leute zu verändern. Jetzt, wo die Technologie noch jung ist, ist der Kurs der Wissenschaft und der Industrie noch steuerbar.“

Wohin? — das ist die Frage, die auf diesem Cyberthon ventiliert, diskutiert und, nicht zuletzt, praktisch erprobt werden sollte. In den diversen Kammern des Labyrinths, anhand verschiedenster Gerätschaften und im großen Diskussionssaal mit den Pionieren und Forschern der Virtuellen Realität. Etwa mit Jaron Lanier von „VPL Research“, der das gebaut hat, was den feinen Unterschied des Cyber-Mediums zu den meisten anderen Medien ausmacht: eine Virtuelle Realität für zwei. „Dies ist das Jahrhundert der Nicht- Interaktivität, alle Medien, außer dem Telefon, sind Einbahn-Medien — die „VR built for two ermöglicht es, Imagination mit anderen zu teilen.“ Aber, fügt Lanier hinzu, „zur Zeit gibt es mehr Konferenzen zum Thema als wirkliche Fakten.“ Das ist einerseits untertrieben — für 70.000 Dollar ist eine künstliche Wirklichkeit für zwei bei VPL zu erwerben — andererseits trifft es exakt den Punkt — „Virtual Reality“ ist ein klassicher Fall von Media-Hype.

Vor einem Jahr erschienen die ersten Artikel zum Thema, mittlerweile findet nahezu alle zwei Wochen irgendwo auf der Welt eine Konferenz statt, bei der die kulturellen, sozialen und philosophischen Konsequenzen der Cyber-Technologie diskutiert werden. Es ist ungefähr so wie eine Diskussion über Tempolimit und Katalysator kurz nach der Erfindung des Rads — doch etwas Besseres, als vom Babystadium an im öffentlichen Interesse zu stehen, kann einer Technologie vielleicht gar nicht passieren. Zumal, wenn sie sich um ein Vielfaches schneller herausbilden wird als der 500 SE aus dem ersten Steinrad: Die Rechengeschwindigkeit, wichtigste Größe für die Darstellung realistischer Graphik in Echtzeit, wird sich, wie man heute schätzt, bis zum Jahr 2000 verzehnfachen, was momentan auf einem aufgemotzten McIntosh-PC wie ein grob gerasterter 3-D-Zeichentrickfilm erscheint, soll dann, zu erschwinglichen Preisen, fotorealistische Simulationen ermöglichen.

Gerätschaften wie Datenhandschuh und -anzug werden dann wahrscheinlich der Vergangenheit angehören und Lichtsensoren die Bewegungen des Körpers übertragen. Einen ersten Eindruck davon gab es im Cyberthon-Labyrinth in der Abteilung „Spiele“, ein neues Zubehör des Spieleherstellers „Ninetendo“, das in einer Lichtschranke ausgeführte Handbewegungen überträgt. Und auch die Goggels, die vor den Augen montierten Videoschirme, sind, wenn man Stephen Beck glauben darf, nicht der technischen Weisheit letzter Schluß. Der Prototyp seines „Phosphotron“ könnte, wenn er hält, was die ersten Tests und sein Erfinder versprechen, alsbald einen kaum noch wegzudenkenden Alltagsgegenstand — den Bildschirm — ersetzen, sein Geheimnis: virtuelles Licht. Bei geschlossenen Augen wird die Netzhaut mit Elektronen gereizt, die das Gehirn als Licht interpretiert. Derzeit sucht Stephen Beck Sponsoren für den Bau von zwanzig solcher Geräte, um einen Großversuch mit Blinden und Sehbehinderten durchzuführen — nach ersten erfolgreichen Tests glaubt er, daß virtuelles Licht ein Werkzeug zur visuellen Reedukation sein könnte. Und darüber hinaus eine Notwendigkeit für jede wirkliche Weiterentwicklung der Virtuellen Realität: „Ein grobes, niedrig aufgelöstes Bild vor den Augen befriedigt unsere Wahrnehmungskriterien der Realität nicht.“

In der Tat: Der Wal in der Seattle-Simulation war als solcher nur zu erkennen, weil die Möglichkeit, darauf zu reiten, vorher mitgeteilt worden war. Die einzigen praktischen Anwendungen der VR-Maschinen beschränken sich zur Zeit auf relativ einfache, geometrische Strukturen. Ein japanischer Küchenhersteller bietet seinen Kunden an, ihre Einbauküche virtuell zu begehen und die Ergonomie von Klappschränken und Schubladen zu testen, einige Architekten nutzen ein Programm von VPL, das erlaubt, am Computer entworfene Bauten von innen zu besichtigen — zusammen mit dem Bauherrn. Dies sind Anwendungen, die sich in allernächster Zeit durchsetzen werden — auch wenn die neue Daimler-Benz-Burg in Berlins Mitte noch zu früh kommt, um zuvor von allen interessierten Bürgern begutachtet zu werden, indem sie sich per Modem in den öffentlichen Cyberspace einwählen und, zu Hause im Wohnzimmer, eine Runde durch die geplanten Gebäude drehen. Keine ferne Zukunftsmusik, sondern übermorgen machbar, die Medienschwärmerei vom Cyberspace beruht durchaus auf Tatsachen.

Auch wenn längst nicht alles spacetauglich ist, was derzeit so rumcybert. Am Caféstand treffen wir zum Beispiel den Astronauten Rusty Schweikart, der die Steuerung von Raumfahrzeugen mittels Datenhandschuh für sehr gewöhnungsbedürftig hält, er bevorzugt nach wie vor zwei handfeste Knüppel, wie sie in den herkömmlichen Videosimulationen der Nasa verwandt werden. Für die Robotersteuerung, wie sie die Nasa anhand eines virtuellen Raumlabors entwickelt — ein Reparaturroboter wird durch einen Kybernauten auf der Erde gesteuert —, sieht er allerdings gute Einsatzmöglichkeiten. Techniken der Telepräsenz, wie sie in Kernkraftwerken, Giftdeponien und beim Militär zum Einsatz kommen können, werden, neben der Unterhaltungsindustrie, zu den ersten kommerziellen Pfründen der VR-Industrie zählen.

Skeptiker glauben, daß es für mehr als die Erweiterung von Flugsimulatoren und Zielgeräten nicht reichen und die zivile Nutzung über 3-D-Videospielchen, als Attraktion von Spielhallen und Jahrmärkten, nicht hinausgehen wird. Technisch, so die Zweifler, sei zwar alles machbar, praktisch freilich würde die Sache wegen gigantischer Kosten in der Entwicklungsphase steckenbleiben: Das Cybermedium wie Telefon und Fernsehen weltweit einzuführen, sei schlichtweg zu teuer. Jaron Lanier sieht das anders. Auf die Frage, ob es sich bei den VR-Systemen nicht nur um luxuriöse High-end-Geräte für besserverdienende Computerfreaks handelt, meint er, daß ein hoher technischer Standard sein müsse. Aber: „Das öffentliche Interesse kommt sehr früh, und deshalb werden Geräte sehr schnell billiger werden.“

In mancher Hinsicht erinnert die Entwicklung des Cybermediums an eine Geschichte, die vor fünfzehn Jahren an der amerikanischen Westküste begann: Damals setzten zwei langhaarige Acid-heads, der Apple- Gründer Steve Jobs und sein Partner Wozniak, in einer Garage den ersten Personal Computer zusammen, belächelt von der Großindustrie und von zahlreichen Kritikern, die fragten, was denn verdammt noch mal eine Privatperson mit diesen sündhaft teuren Kisten eigentlich anfangen soll. Mittlerweile ist das überhaupt keine Frage mehr: Dieser Artikel ist auf einem tragbaren Computer geschrieben, dessen gigantische Rechenleistung noch vor zehn Jahren im Pentagon oder auf der Hardthöhe unter allerschärfster Bewachung stand. Die Garagenbastelei von Jobs und Wozniak hat dafür gesorgt, daß sich der Zugriff auf die neue Technologie in Windeseile verbreitete: vom militärisch-industriellen Komplex auf die zivil-individuellen Haushalte. Heute sind es Freaks wie Jaron Lanier (30), ein dicker Mann mit wilder Rasta-Mähne und sanftblauen Augen, denen die Pionierrolle des visionären Bastlers obliegt: Vor fünf Jahren gründete der Musiker und Hippie-Hacker die Firma „Visual Programming Language (VPL) Research“ — mit dem technischen (und ästhetischen) Ziel, eine visuelle Programmiersprache zu entwickeln.

Aus dieser Arbeit entstand das neue Interface für die Schnittstelle Mensch/Computer — Datenbrillen und Handschuhe, die außer von VPL mittlerweile auch noch von zwei anderen Firmen in der Bay Area — „Sense 8“ und „Autodesk“ — auf den Markt gebracht wurden. Eine Billigversion des Datenhandschuhs ist bereits unter Lizenz von „Mattel“ für neunzig Dollar im Spielzeughandel, eine Erlösung für alle Mütter, die des phallischen Joysticks ihrer Computerkids schon lange überdrüssig sind. Auch wenn es einige, wie die echten Astronauten, weiterhin mit dem klassischen Knüppel halten, ist der „Power Glove“ ein Verkaufserfolg.

„Keep the vision“, war eine der Notwendigkeiten für die Zukunft der VR-Technologie, die auf dem Cyberthon-Podium des öfteren laut wurde. Aber was ist die Vision, wenn die ersten Massenprodukte einzig zur Verschärfung der Videospielerei beitragen? Es ist die Überzeugung, daß Virtuelle Realität nicht dem Fernsehen noch einen Entfremdungsgrad draufsetzt, sondern das Telefon zu seiner visuellen, dreidimensionalen Vollendung führt. Es ist die Hoffnung, daß im Cyberspace möglich werden könnte, was sich im öffentlichen Raum als Illusion erweist: die herrschaftsfreie, kommunikative Gemeinschaft freier Weltbürger. „Die älteste Virtuelle Realität, die wir kennen“, so der Halluzinationsforscher Terence McKenna, „ist etwa dreißigtausend Jahre alt: es ist unser Symbolsystem, die menschliche Sprache.“ Dieses Symbolsystem zu transformieren, zu erweitern — von der Grammatik zur Geometrie, von der Syntax zur Synästhetik — ist die Idee, die VR-Pioniere wie Jaron Lanier beflügelt. Für ihn ist die Sache unter allen Medien nur mit einem vergleichbar: der Musik. Die amerikanischen Drogenbehörden unterdessen machen sich über die Aspekte dieser „Musik“ ganz andere Sorgen — ein Schreiben wurde zitiert, in dem Virtuelle Realität als neue, nichtchemische Droge beargwöhnt und kritische Beobachtung der weiteren Entwicklung anheimgestellt wurde. Während faktisch zwischen Drogen-Imaginationen und Virtueller Realität der fundamentale Unterschied besteht, daß letztere nicht nur individuell, sondern kollektiv erfahrbar ist, haben die Drogenkrieger mit Argwohn historisch sogar ein bißchen Recht. Das, was an diesem ersten Oktober- Wochenende 1990 in San Francisco über den Cyberthon-Parcours ging, begann vor über einem Vierteljahrhundert, als die Theaterkommune um Ken-„Einer flog übers Kuckucksnest“-Kesey mit einem alten Schulbus auf Tour ging. Der Chronist Tom Wolfe hat es in seinem Klassiker (The Electric Kool Aid Acid Test, deutsch: Unter Strom) beschrieben: wie die Merry Pranksters spielten, Musik machten, das damals noch legale LSD (Acid) überall im Land verteilten und die Initialzündung gaben für das, was einige Jahre später als „Love & Peace“ um die Welt gehen sollte.

Einer der Merry Pranksters war Stewart Brand, der 1971 den Whole Earth Catalogue herausgab, ein Informationskonvolut und eine Werkzeugkiste, die wiederum eine Initialzündung gab — Selbstversorgung, Energiebewußtsein, Ganzheitlichkeit. Das Buch wurde ein Bestseller, von den Gewinnen wurde das „Whole Earth Institute“ gegründet, das seit 1974 eine Zeitschrift herausgibt ('Co-Evolution Quarterly‘, später in 'Whole Earth Review‘ umbenannt) — und jetzt mit Veranstaltungen wie dem Cyberthon einen weiteren Schritt in die Zukunft getan hat — in eine aufregende Verbindung von Graswurzelrevolution und Computertechnik.

In der zweiten Folge, die am Samstag erscheinen wird, geht es um die theoretischen Aspekte von Cyberspace.