: Die Türkei ist eine „traumatisierte Gesellschaft“
■ Türkische Ärzte haben ein Behandlungszentrum für Folteropfer gegründet/ Ein Gespräch mit Mitgliedern der türkischen Menschenrechtsstiftung
taz: Was ist der Zweck Ihrer Reise durch die Bundesrepublik?
Haldun Özen (Ingenieur): Wir wollen unsere Stiftung bekanntmachen und über den Stand unseres Projekts zur medizinischen Betreuung von Folteropfern informieren. Seit März gibt es bereits ein Beratungszentrum für Folteropfer in Ankara. Andere Kollegen arbeiten, wie alle Beteiligten ehrenamtlich, in Istanbul und Izmir. Im nächsten Jahr wollen wir ein Behandlungszentrum mit mehreren festangestellten Ärzten in Ankara eröffnen. Langfristig planen wir eine Rehabilitationsklinik für Menschen, die gefoltert wurden.
Wieviele Menschen waren bisher bei Ihnen?
Okhan Akhan (Arzt): In den letzten beiden Monaten haben mehr als 30 Menschen unsere Hilfe in Ankara gesucht.
Wie erfahren Ihre Patienten von der Existenz des Zentrums?
Özen: Vor unserer staatlichen Zulassung wollten wir es nicht großartig bekanntmachen. Sonst kämen so viele Menschen, die gefoltert wurden, daß unsere Infrastruktur für ihre Betreuung nicht ausreichen würde. Aber durch die Unterstützung aus dem In- und Ausland hat man natürlich schon von uns erfahren.
Mit welchen Symptomen kommen die Leute?
Ata Soyer (Arzt): Man muß unterscheiden zwischen denen, die aus der Haft entlassen wurden, und denen, die noch im Gefängnis sitzen und uns schreiben. In erster Linie haben die Patienten psychosomatische Beschwerden, Magen- und Darmbeschwerden. Zweitens körperliche Schäden infolge von diesem Palästinahaken, Nervenlähmungen, Bandscheibenvorfälle und zum Beispiel auch Knochenbrüche. Drittens leiden sie, bedingt durch die fehlende medizinische Versorgung, unter Tuberkulose, Zahnerkrankungen, Nierenkrankheiten, Hämorrhoiden und Herzbeschwerden. Aber alle Kranken haben eines gemeinsam. Sie leiden mehr oder weniger stark an seelischen Problemen. Durch die Unterwerfung, durch die menschenunwürdige Behandlung, durch das Erlebnis Folter haben sie alle als Begleiterscheiung auch seelische Probleme. Und gerade über diese Beschwerden haben wir bislang keine genauen Kenntnisse. Was sich dahinter an größeren Problemen verbirgt, wissen wir noch nicht.
Kann es überhaupt eine Hilfe für Folteropfer geben?
Akhan: Wenn jemand ein körperliches Problem hat, wie zum Beispiel einen Bandscheibenvorfall, ist es ziemlich einfach, zu helfen. Das größte Problem sind natürlich die psychischen Folgen.
Verstehen Sie die Folterfolgen als Krankheit?
Soyer: Das ist schwierig. Wir verstehen das ganze jedenfalls nicht als persönliches Problem des Folteropfers, sondern als das einer traumatisierten Gesellschaft. Dieser Begriff trifft die Situation in der Türkei genauer. Die Folgen der Folter kann man als ein Problem der Volksgesundheit begreifen. Erstens, da die Folter sehr weit verbreitet ist. Laut amnesty international sind seit dem Putsch 650.000 Menschen festgenommen worden, die meisten wurden gefoltert. Und ein Prozent von ihnen ist krank. Zweitens ist das ein Problem, das zur körperlichen Behinderung oder zum Tode führt. Und drittens führt es zur Zerstörung der Gesellschaft. Aber auch wenn die Zahl der Folteropfer niedriger wäre, wäre es aus moralischer Sicht ein Problem der Volksgesundheit.
Haben Sie Erfahrung in der Behandlung von Folteropfern?
Akhan: Wir stehen in sehr engem Kontakt und Austausch mit Ärzten und Zentren in anderen Ländern: Dänemark, Frankreich, Schweden und Chile, die schon Erfahrungen mit solcher Arbeit und bereits viel dazu veröffentlicht haben. Mit Kollegen aus anderen Ländern haben wir Konferenzen in der Türkei gehabt. Die Leiterin des Kopenhagener Rehabilitationszentrum hat uns gesagt: „Nur Mut, am Anfang wußten wir auch nichts.“
Wie finanzieren Sie sich?
Özen: Durch Spenden aus dem In- und Ausland. Mit der Berliner Ärztekammer verhandeln wir zum Beispiel über eine zukünftige Zusammenarbeit. Das Stiftungskapital ist allerdings zur Zeit blockiert. Wir haben vier Räume in Ankara angemietet. Dort haben wir ein Fax und einen Computer. Wir geben dort ein Menschenrechtsbulletin heraus. Diese Öffentlichkeitsarbeit läuft seit drei Monaten.
Wieviel Geld brauchen Sie für das Behandlungszentrum?
Özen: Wir wollen im nächsten Jahr 100 Leute behandeln. Für die Räume, das Personal und das Material benötigen wir 160.000 Dollar.
Was haben die türkischen Behörden zu dem Behandlungszentrum für Folteropfer gesagt?
Özen: Unsere Regierung unterschreibt einerseits die internationalen Abkommen gegen Folter, tut aber praktisch nichts, um die Folter im Land abzuschaffen. Außerdem behindert die Regierung auch die Arbeit von Institutionen, die Folteropfern helfen wollen. Vor einem Jahr haben wir die Satzung der Stiftung vorgelegt, seither haben wir immer noch nicht alle bürokratischen Hürden überwunden. Als erstes wurde die Stiftung für gesetzwidrig befunden, weil in der Satzung stand, daß Folter gegen die Menschenwürde verstößt und wir vorhaben, eine Klinik für Folteropfer zu eröffnen.
Nach den Gesetzen und der Verfassung der türkischen Republik ist Folter aber verboten, und daher ist es gesetzeswidrig, eine Stiftung zu gründen, die annimmt, es gäbe Folter in der Türkei. Die Sache wurde bis zum dem Obersten Gerichtshof verhandelt. Inzwischen haben wir die Satzung etwas geändert. Wir erwarten mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit demnächst unsere Zulassung.
Interview: Dorothea Hahn
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