: Modernisiertes Modell des Nürnberger Trichters
■ Enquete-Komission "Zukünftige Bildungspolitik-Bildung 2000" hat Schlußbericht vorgelegt/ Brisante Fragen gar nicht erst zugelassen
Von Werner Rügemer
Es hätte eine spannende Untersuchung werden können, die die Bundestags-Enquete-Kommission „Zukünftige Bildungspolitik — Bildung 2000“ durchführen sollte. Denn das Ende 1987 auf Antrag der Grünen und der SPD eingerichtete Gremium schuldete seine Entstehung einem Konflikt, in dem sich die Zukunft der Bildung zu einem Politikum entwickelt hatte.
So war geplant, daß sich die Kommission mit langfristigen Zukunftsfragen vor allem auf dem Gebiet der Berufs- und Weiterbildung sowie in den Hochschulen beschäftigt. Außerdem sollte den Zusammenhängen von Bildung-, Arbeits- und Technologieentwicklung nachgegangen werden, und die Bedeutung des EG- Binnenmarktes für diesen Themenkomplex sollte erörtert werden alles selbstverständlich auch unter ökologischen und frauenpolitischen Gesichtspunkten. Am 10.Oktober 1990 also wurde der Schlußbericht der Öffentlichkeit überreicht.
Mit dem Schülerprotest hat es begonnen
1986 und 87 hatten über ein gutes Jahr hinweg hunderttausende Schülerinnen und Schüler vor allem aus Gymnasien gegen die konservative Wende der Oberstufenreform protestiert. Sie verwahrten sich gegen die von konservativen Parteien, Lehrer- und Unternehmerverbänden seit langem vorbereitete Einschränkung der Wahlfreiheit bei Schulfächern, forderten ökologische und feministische Prinzipien im Unterricht, die Demokratisierung des Schulbetriebs und die Wiedereinrichtung des Schüler-Bafög, das die Kohl-Regierung weitgehend abgeschafft hatte.
Als das alles abgebügelt und die gymnasiale Oberstufe von den Kultusministern aller damaligen Bundesländer gewendet worden war, warfen die angepaßt-betrogenen parteipolitischen Verlierer dieser Auseinandersetzung, Grüne und SPD, im Bundestag zerknirscht die Zukunftsfrage auf. Sie beantragten die Enquete-Kommission. Hatten sie für deren Arbeitsauftrag schon die Schülerbewegung vorsichtig aus dem Spiel gelassen, machten sie die Sache durch weitere Kompromisse noch uninteressanter.
Auf Betreiben der Konservativen, die geistlos aber erfolgreich auf die Länderhoheit in Bildungsfragen pochten, wurde die Kommission einvernehmlich mit einem politisch und juristisch zurückgestutzten Auftrag eingesetzt: Sie durfte sich nicht mit der allgemeinbildenden öffentlichen Schule beschäftigen, sondern nur mit den Bildungsbereichen, die in Bundeskompetenz stehen, also Berufs- und Weiterbildung und Hochschulen.
Damit hatte man sich aus brisanten Fragen abgemeldet. Man war damit nicht nur die Oberstufe und deren aufmüpfige Population los, sondern auch die Hauptschule, die immer noch die verbreitetste Schulform für Jugendliche über zehn Jahren darstellt, und die seit einem Jahrzehnt ihre Kennzeichnung als „Restschule“, „Ausländerghetto“ oder „Dummenschule“ zurecht nicht mehr loswird.
Oder es wäre zu reden gewesen von den expandierenden Sonderschulen für geistig und körperlich Behinderte; Eltern fordern Integration, die vor allem in den christlich regierten Bundesländern immer offener verhindert wird. Immer mehr Kinder und Jugendliche, die auch nach herkömmlichen Begriffen eigentlich nicht in die Sonderschulen gehören, werden aus Mißachtung und Bequemlichkeit vemehrt hier „untergebracht“.
Notengebung, Sitzenbleiben, Unterrichtsausfall, Tablettenkonsum, zunehmende Kinderarbeit, das „burn out“-Syndrom — Aussteiger und Abbrecher bei Schülern wie Lehrern —, Arbeitslosigkeit von Pädagogen, Auswirkungen der Arbeitslosigkeit bei Eltern auf Schulkinder: sämtliche damit Schritt für Schritt millionenfach verbauten individuellen Bildungszukünfte blieben von der hohen Kommission erbarmungslos unerörtert.
In den inhaltlich wichtigen Abschnitten des Schlußberichts stehen sich jeweils die konservative Mehrheitsmeinung und die grün-sozialdemokratische Minderheitsmeinung gegenüber. Auf den 1.000 Seiten finden der interessierte Experte und die künftige Doktorandin Hunderte von Vorschlägen, die von Mehrheits- und Minderheits-Fraktion brav nacheinander aufgelistet sind.
Immerhin sind viele Vorschläge der grün-sozialdemokratischen Fraktion bedenkenswert, etwa wenn im Bereich der Weiterbildung gegen den privat-profitlichen Wildwuchs ein staatliches Rahmengesetz, kommunale Verantwortung für Weiterbildungsmaßnahmen — zum Beispiel in den Volkshochschulen — und Mitbestimmung von Betriebs- und Personalräten gefordert und auf die notwendige ökologische Umgestaltung der Berufe hingewiesen wird. Nur: mit der Harmonie-Methode wird man im harten Konkurrenz- Neudeutschland weniger denn je irgend etwas erreichen.
Warum haben sich nicht wenigstens die Grünen daran erinnert, daß Umweltschutz, Selbststeuerung und Frauengleichstellung, von denen im Schlußbericht nach anfänglichem Zögern nun auch die CDU-, CSU- und FDP-Mitglieder ganz selbstverständlich reden, erst durch jahrelangen Konflikt und Widerstand zu (scheinbar) allgemein anerkannten Zielen geworden sind?
Konservative wie Linke in der Kommission gehen, wenn selbstverständlich auch politisch unterschiedlich, von einer eindimensionalen Steuerungsfunktion des Bildungssystems aus: In Kommission und dann im Bundestag müßten lediglich die richtigen neuen Bildungsziele politisch beschlossen werden, dann würden sich auch die Köpfe, Herzen, Beine und Hände der mit der neuen Bildung traktierten Menschen in Richtung Autonomie und Selbststeuerung, Ökologie, Frauengleichstellung usw. in Bewegung setzen.
Mehr Wissen führt auch zu mehr Zynismus
Das schwerer wiegende Problem ist das, was als „modernes Bildungsparadox“ bezeichnet werden könnte: das alte Paradigma, das die grün-sozialdemokratische Fraktion in ihrem Minderheitenvotum erneut trotzig bekräftigt: Daß nämlich mehr Wissen auch unmittelbar mehr Fortschritt bedeute. Mehr Bildung und Wissen heißt aber nicht einfach mehr Macht, sondern auch Ohnmacht. Das öffentliche Wissen und Sprechen über Umweltzerstörung, Kindersterblichkeit in der 3.Welt und steigende Militärausgaben ist begleitet und wird konterkariert vom Wissen über die bisher nichtgelungene oder nichtgewollte Abkehr von dieser Entwicklung.
Die geläufig von den „globalen Gefahren“ sprechenden Individuen der reichen Länder wissen vielfach zugleich, daß sie falsch und auf Kosten anderer leben. Auch und gerade hochqualifizierte Berufsarbeit in den Metropolen trägt (natürlich ungewollt und unschuldig) zur weiteren Aufspaltung der Menschheit in arm und reich bei.
Mehr Wissen und Qualifikation führt heute mehrheitlich zu mehr Zynismus und zu ganz neuen Bildungs- Blockaden und -Deformationen. Da ist es einfach naiv, nostalgisch, wirklichkeitsfremd, um nicht zu sagen verantwortungslos, von einem modernisierten Modell des Nürnberger Trichters auszugehen, daß nämlich ein politisch von oben „fortschrittlich“ umdefiniertes Bildungssystem Abhilfe schaffen könnte — abgesehen davon, daß die Linken in der Enquete-Kommission (als Linke bezeichnen sie sich selbst) ja nun feststellen mußten, daß selbst für ihre bescheidenen Ziele eine solche Umdefinition jetzt und auf absehbare Zeit gar nicht möglich ist.
Für die Bilanz der SPD-Mitglieder in der Enquete-Kommission sieht das dann so aus: Alle Untersuchungen ergeben, daß trotz der ernormen Bildungsexpansion der letzten beiden Jahrzehnte in der Bundesrepublik die Chancen-Ungleichheit beim Zugang zur Bildung sowie bei der beruflichen Realisierung der genossenen Bildung fortbesteht. Was aber ist die Konsequenz daraus, für die SPD, deren (relative) Führungsfunktion in Bildungsfragen gerade daraus resultiert, daß sie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die (relative) Überwindung der Chancenungleichheit in der Bildung politisch erkämpfen wollte?
Abwendung von der allgemeinen Bildung
Die Konsequenz ist, daß die SPD die Bildungs-Expansion begrüßt, weil sie das ist, was von der Bildungs-Reform letztlich übriggeblieben ist und nun auch von der CDU nach langem Zögern als „positiv“ anerkannt wird. Mit anderen Worten: mit der Chancen-Ungleichheit in Deutschland hat sich die SPD abgefunden, um den Preis, daß nun eben nicht mehr nur fünf Prozent, sondern 30 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs das Abitur machen.
Die Berufsbildung hat sich für die gesamte Enquete-Kommission als der Bereich herausgeschält, in dem der Wahrheitsbeweis der Bildung angetreten wird. Das war eigentlich auch bei Marx und in der russischen Revolution und in der polytechnischen Bildung der DDR usw. schon so — aber die sind ja nun offiziell gescheitert. Diese Einsicht wurde nun im Konsens und ganz anders in der sich einmütig wundernden Enquete- Kommission nachvollzogen.
Natürlich vollzog sich dies auf „höherem Niveau“. Das Konzept der „Schlüsselqualifikationen“, in den 70er Jahren im Bereich der Arbeitsmarkt- und Qualifikationsforschung der Nürnberger Bundesanstalt entwickelt, hat sich auch in der SPD defensiv-alternativlos durchgesetzt. Es ist das interessante und neue Bildungskonzept, in dem die Bildungs-Möglichkeiten der High- Ttech-Produktion, zwischen neuen Sekundärtugenden qualifizierter Heloten und demokratischer Selbststeuerung selbstbewußter Facharbeiter, theoretisch formuliert sind (mangels besserer Möglichkeiten) und das in der Berufsausbildung vor allem der Großkonzerne zu praktizieren versucht wird. Dazu läßt sich im Schlußbericht vieles (Unkritische) nachlesen.
Entgegen dem Einsetzungsauftrag kam die Kommission nach eigenem Eingeständnis nicht mehr dazu, sich auch mit der politischen und kulturellen Bildung zu beschäftigen. Das war aber nicht vorrangig ein Problem der knappen Zeit. Die neue Orientierung an Beruf, Berufsbildung und Schlüsselqualifikationen war von vornherein verbunden mit der erzwungen-freiwilligen Abwendung von der allgemeinbildenden Schule und von allgemeiner Bildung.
Erst im Verhältnis von erneuerter Berufsbildung und erneuerter allgemeiner Bildung beginnt aber die eigentliche Bildungs-Herausforderung unserer Zeit.
Der Vorschlag von SPD und Grünen, Bildung zum einklagbaren Menschenrecht in einer neuen deutschen Verfassung zu verankern, geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug und an den aktuellen Knackpunkten vorbei.
Das zweihundertjährige autoritäre Berufsbeamtentum wurde von der Kommission nicht infrage gestellt, und nun wird es nach den frustrierten Unterrichtsbeamten aus der bundesdeutschen 68er Generation auch Wendehälse aus der ehemaligen DDR vor pädagogischen Herausforderungen beschützen. Modernisierung ohne Demokratisierung: Diese Zukunft hatten wir schon.
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