: Das Volk ist deutsch!
■ Das Bundesverfassungsgerichtsurteil ist ein Schlag ins Gesicht der ImmigrantInnen KOMMENTARE
Es hat in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts häufiger Urteile gegeben, in denen die Richter dokumentiert haben, daß ihr Verfassungsverständnis der politischen und gesellschaftlichen Realität weit hinterherhinkt. Herausragende Beispiele dafür waren der Spruch zum Paragraphen 218 und das Festhalten der Karlsruher Richter an dem Rechtsanspruch eines Deutschlands in den Grenzen von 1937.
Das gestrige Urteil zum kommunalen Wahlrecht für AusländerInnen gehört in diese Kategorie. Es ist politisch ignorant und ideologisch borniert rund fünf Millionen überwiegend seit zwanzig Jahren in Deutschland lebenden türkischen und jugoslawischen ImmigrantInnen ex cathedra zu verkünden, sie seien nicht das Volk: Das Volk ist mithin nicht die Gruppe von Menschen, die in einem bestimmten Gebiet lebt, arbeitet sich politisch artikuliert oder von politischen Entscheidungen gleichermaßen betroffen ist; nein, daß Volk ist diejenige Gruppe von Menschen, denen der Besitz eines bestimmten Ausweispapiers gemeinsam ist.
Diese Unterscheidung ist auf verschiedenen Ebenen von fundamentaler Bedeutung. Zum einen zeigt sich daran der Unterschied zwischen einer republikanischen und einer nationalen bis nationalistischen Staatsauffassung. Eine Republik ist im Prinzip ein Zusammenschluß freier BürgerInnen, in der ethnische Differenzierungen völlig bedeutungslos sind. Der Nationalstaat dagegen ist die Abgrenzung einer ethnischen Gruppe nach außen.
Die Diskussion um die nationalstaatliche Grundlage der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Einwanderung seit den sechziger Jahren dauert nun schon mindestens zehn Jahre. In einem mühsamen Prozeß der öffentlichen Auseinandersetzung wurde millimeterweise die Einsicht erkämpft, daß auch importierte Arbeitskräfte Menschen sind, denen man auf Dauer nicht sämtliche politischen Rechte vorenthalten kann. Wer weiß, wievieler Podiumsdiskussionen mit Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Grünen es bedurfte, um wenigstens die minimalste politische Partizipation — auf kommunaler Ebene wählen zu dürfen — mehrheitsfähig zu machen, kann ermessen, welche Enttäuschung mit dem gestrigen Spruch verbunden ist.
Das Urteil fällt in einer Zeit, in der die theoretische Überlegung eines republikanischen Rechts mit der aktuellen Diskussion um die Verfaßtheit der neuen Bundesrepublik Deutschland aufs engste korrespondiert. Es ist deshalb ein Signal weit über die konkrete Frage des kommunalen Wahlrechts von ImmigrantInnen hinaus. Und so wird es auch verstanden. Der überwiegende Teil der CDU/CSU feiert das Urteil als Bollwerk zur Erhaltung der deutschen Identität, für die ImmigratInnen ist ihre täglich erlebte Ausgrenzung nun höchstrichterlich sanktioniert.
Der atmosphärische Schaden, den dieses Urteil anrichtet ist nicht abzusehen. Seit der deutschen Vereinigung sowieso an den Rand gedrängt, ist dieser Richterspruch gerade für diejenigen ImmigrantInnen, die sich nicht in die Ghettos ihrer Herkunftsländer zurückgezogen haben, ein Schlag ins Gesicht. Sie werden erneut entmutigt, ausgegrenzt und zurückgestoßen. Sie interpretieren das Urteil zu Recht als Botschaft folgenden Inhalts: Die Deutschen wollen euch nicht.
Jenseits der Bedeutung, die dieses Urteil für die Betroffenen hat, schreibt das Verfassungsgericht mit seiner gestrigen Entscheidung noch eine gefährliche Fiktion fest: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Das stimmt faktisch schon lange nicht mehr und wird sich im weiteren Prozeß der europäischen Integration als schwerwiegendes Hindernis erweisen. Die Freizügigkeit nicht nur beim Reisen, sondern auch in der Wahl des Wohnorts und Arbeitsplatzes innerhalb Europas kann und wird auf Dauer die politische Partizipation dort, wo man sich niederläßt, bedeuten müssen. In einem vereinigten Europa kann der europäische Bürger nicht mehr qua ethnischer Definition in seinen politischen Rechten beschnitten werden. Wenn die deutsche Verfassung so anachronistisch ist, wie ihre Karlsruher Hüter sie auslegen, muß sie verändert werden. Es ist richtig und selbstverständlich, daß die Opposition diesen Punkt nun in die Debatte um eine neue gesamtdeutsche Verfassung einbringen will. In der derzeitigen Situation aber wohl mit wenig Aussicht auf Erfolg. Eine Mehrheit für eine entsprechende Verfassungsreform ist aller Voraussicht nach auch nach dem 2.Dezember 1990 nicht in Sicht. Es bleibt die vage Hoffnung, daß auch die Kanzlerpartei sich irgendwann bewegt. Der Hebel dazu ist zweifellos Europa. Die CDU/CSU muß sich erneut fragen lassen, ob sie Europa will oder der Restauration des Nationalstaates anhängt. Eine Entscheidung darüber sollte bald fallen, damit sowohl die hier lebenden ImmigrantInnen als auch unsere europäischen NachbarInnen wissen, woran sie sind. Jürgen Gottschlich
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