Ejakulation ohne Subjekt

Georg Steiners Predigt gegen die Coolness der Dekonstruktion  ■ Von Ludger
Heidbrink

Wer kennt das nicht: Jeden Tag diese Massen von Neuerscheinungen und Rezensionen, jede Woche die Literaturbeilagen und jeden Monat die Kulturmagazine mit ihren Trendmeldungen und intellektuellen Offenbarungen.

Wir leben in einer Welt der Zeichenleere, in der Entropie eines Bedeutungsvakuums, das vom Geschwätz des Journalismus, der Simulation der Medien und der uferlosen Fülle akademischer Textproduktion erzeugt wird. Es ist eine heillose Welt, in der ein Parasitentum des Sekundären herrscht, das jede originäre Erfahrung abgetötet hat. Es gibt keine reale Gegenwart mehr, nur noch imaginäre Zonen, indirekte Diskurse und inszenierte Erlebnisse. Und es existiert vor allem keine ursprüngliche Kunsterfahrung mehr, denn die Werke sind verschüttet unter einem Müllhaufen feuilletonistischer Kritik und universitärer Exegese.

Georg Steiner entwirft in seinem neuen Essay das Pandämonium einer Postmoderne, die keine Authentizität und keine Echtheit mehr kennt. Verstellt von Kommentarwut und Informationsflut wird Reales unsichtbar und Kunst zur hermeneutischen Leiche. Theoretisches Palaver verhindert eine undirigierte Aufnahme des Ästhetischen und untergräbt den Eigensinn der Artefakte. Steiner will die Werke vor ihren exegetischen Vergewaltigern retten. Gegen die interpretatorische Willkür setzt er auf eine „Ethik der Rezeption“, die sich mit „philologischem Takt“ — Steiner nennt dies etwas altmodisch cortesia — dem Werk nähert.

Bei Wittgenstein sieht Steiner einen ethischen Kern jeden Sprachspiels, mithin also auch einen moralischen Imperativ der Interpretation. Das Kunstwerk, das dem Betrachter „von Angesicht zu Angesicht“ begegnet, erheischt dessen Vertrauen und „Gastfreundschaft“. In der Erfahrung einer grundlegenden „Andersheit“ liegt damit der Kern einer Freiheit, die „das Andere“ und den anderen in Frieden bestehen läßt. Kunst ist Einübung in unversehrte Zwischenmenschlichkeit und damit Exempel einer toleranten Gemeinschaft, die erst auf dem Boden des ästhetischen Dialogs entsteht.

Dieser Gedankengang klingt vertraut. Er erinnert an Adornos Utopie mimetischer Versöhnung und hallt noch in Habermas' Idee zwangloser Kommunikation nach. Befremden entsteht erst in dem Moment, in dem Steiner vom „Mysterium des Schöpfungsaktes“ zu fabulieren beginnt und alles Sprechen auf einen göttlichen logos zurückführt. Da tönt es plötzlich, unsere Grammatik erfordere ein „Setzen auf Transzendenz“, Ästhetik sei „formgewordene Epiphanie“, und alle große Kunst werde „vom Feuer und vom Eis Gottes“ angerührt.

Was ist das? Die Rückkehr des Religiösen im Gewand der Kunst? Das chiffrierte Bekenntnis eines Katholiken? Oder nur die theologische Kompensation postmoderner Sinnlosigkeit?

Steiners Essay ist zweifellos brillant. Selten wurden die Auswüchse der Informationsgesellschaft mit einer derartigen Verve gegeißelt, der Zeichenverschmutzung unserer Zeit, die zum „Entsorgungsproblem“ der Zukunft werden wird, vehementer auf den Zahn gefühlt. Denn wie der ganze Verkehr im Irrsinn seiner Teilnehmer bald stillstehen wird, werden auch die Informationen im Zenit ihrer Überproduktion in ein leeres Rauschen übergehen. (Der jährliche Ausstoß an Aufsätzen und Dissertationen nebst feuilletonistischen Kritiken hat im Grunde schon längst die Schallmauer des Verkraftbaren durchstoßen. In einer kristallisierten Gelehrtenrepublik läuft die Wissensmaschinerie nur noch zum Schein.)

Außerdem führt Steiner einen bedenkenswerten Feldzug gegen die Phalanx der Dekonstruktionisten, deren Manierismen die letzte Schwundstufe auf dem traurigen Weg eines verkümmernden ästhetischen Verstehens verkörperten. Wie ein Kordon habe sich der Jargon der Grammatologie vor alle ästhetischen Phänomene gestellt, die mit banaler Tiefsinnigkeit und prätentiösen Wortschwällen zugeredet werden. Allerdings müsse Barthes und Derrida zugute gehalten werden, in der Unendlichkeit des Kommentars, der das „Original“ ersetzt hat, auf das zentrale Ereignis der Moderne hinzuweisen: den definitiven Tod Gottes.

Steiner sieht den entscheidenden Einschnitt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. In Mallarmés Kritik des abbildenden Wortes und Rimbauds Erschütterung des Selbst kündigt sich an, was dann Nietzsches toller Mensch herausbrüllt und Gottfried Benn mit „Worte, Worte — Substantive!“ beschwört. An die Stelle Gottes tritt die Sprache, das poetische Wort, das schafft, wo nichts mehr ist. Entsprechend nennt Steiner die Moderne die „Zeit des Epilogs“. Mit dem Verlust des transzendentalen Signifikats (Derrida) kreist der Text, das Werk um sich selbst; diese gottlose Pirouette bedarf des Kommentars, der zunehmend den „eigentlichen Sinn“ und seinen Urheber verdrängt. Am Endpunkt dekonstruktionistischer Lektüre steht allerdings ein Bramarbasieren, das Steiner als „Null-Theologie“ deutet, als den verzweifelten Tanz der Rede um den leeren Altar Gottes.

Dieses Motiv des deus absconditus durchzieht den gesamten Essay. Steiners Versuch, das stählerne Gehäuse der Moderne durch eine „Re- mythologisierung“ zu sprengen, trifft sich nicht nur mit anderen aktuellen Strömungen, es wirft ihn vor allem um Jahrzehnte zurück. So finden seine anachronistischen Überlegungen ihre eigentlichen Vorläufer im Supranaturalismus Baudelaires, der poetischen Epiphanie von Joyce, aber vor allem in der konservativen Kulturkritik der Weimarer Republik. Es ist das Lamento über das leere Gerede der Öffentlichkeit, den Schwund des Arkanums im Politischen und die Krankheit der europäischen Kultur, das Steiner schließlich mit Heidegger, Carl Schmitt und Christoph Steding teilt, um nur einige Namen zu nennen. Sicherlich fehlt der tendenziöse Ton, aber Steiners Suada entspringt einer eminent modernitätsfeindlichen Haltung, sei sie Attitüde oder Überzeugung.

Nur konsequent ist deshalb sein Vorschlag einer „gegen-platonischen Republik“, in der es keine Rezensenten und keine Kritiker mehr gibt, nur noch Schriftsteller und Leser, eine Art Gemeinde des Primären. Platons Verbannung der störenden Dichter entspricht symmetrisch die Exilierung der „Kulturvermittler“ (Bourdieu), deren Paraphrasen dem Rausch originärer Kunstbetroffenheit störend im Wege stehen. Das Auratische, das Benjamin schon vom Kultwert getrennt hatte, führt Steiner fidel wieder ein, als läge kein Jahrhundert mit enormen technischen Fortschritten und sozialen Veränderungen hinter uns. Auch daß die klassische Moderne von Kafka bis Beckett schon selbst eine postreligiöse Epoche war, in der Gott allein noch als Allegorie auftauchte, will Steiner nicht so ganz einleuchten. Unbeirrt pocht er aufs Transzendente, das unbeschattet durch Kommentierungen in den „Gegenschöpfungen“ großer Kunst erstrahlen soll.

(Die Scharlatanerien Georg Steiners sind bekannt, auch wenn seine literarhistorischen und kulturgeschichtlichen Werke bei uns noch nicht recht zur Kenntnis genommen wurden. Steiner, der als polyglotter Sohn Wiener Juden in Paris erzogen wurde, lehrt Literatur in Genf und Cambridge, zieht als akademischer Vortragsreisender durch die Welt, schreibt gegen seine eigenen Postulate in den internationalen Feuilletons und liebt die Provokation. So äußerte er einmal in einem Gespräch: „Wir kleinen Professoren, Mandarine, Stubenhocker, Bücherwürmer, Bibliotheksratten, wir sitzen tagein, tagaus über staubigen Papieren, und in uns eine verzehrende Sehnsucht nach großer Tat und nach Gewalt.“)

Steiner ist einer der letzten großen Hommes de lettres unserer Zeit, aber zugleich auch zwiespältiger agent provocateur, dessen Polemiken bisweilen ins Gegenteil kippen. Sicherlich verbirgt sich in seinem Pamphlet für eine neue ästhetische Religiösität auch eine Koketterie mit dem Mystischen, eine bewußte Provokation der kühlen Intelligenz, deren dekonstruktionistische Spielereien er als Ausdrucksformen einer Kultur einstuft, in der „man sich ,cool‘ gibt“. Und zweifelsohne ist sein Plädoyer für eine ethische Philologie der Kunst ernstgemeint und von hermeneutischer Brisanz.

Aber es steckt auch eine Dimension in seinem Essay, die von problematischer Tiefe und ganz bestimmt keine Tändelei ist. Religiöse Erfahrung ist heute keine ästhetische Kategorie mehr. Jeder Versuch einer Wiedererweckung spirituellen Erfassens mündet unweigerlich in reaktionären Mystizismus. Den Ausnahmezustand des Ästhetischen durch metaphysische Schwingungen zu erklären, ruft nicht nur unangenehme Erinnerungen an vergangene Zeiten hervor, es führt auch zu nichts, höchstens zu privater Illumination. Das kulturelle Umfeld der Weimarer Republik war genau durch diese Sehnsucht nach dem „ganz Anderen“ gekennzeichnet, die auch Steiner befallen hat. Ernst Jünger, aber auch Thomas Mann und erst recht die Expressionisten befanden sich auf der Suche nach neuen Tiefen, anderen Erfahrungen, rettenden Reinigungen von der modernen Langeweile einer mathematisierten Welt.

Heute wiederholt sich dieser „Aufstand gegen die sekundäre Welt“, wie es Botho Strauß in seinem Nachwort nennt. Der Kampf wird nun gegen den „Papierleviathan sekundären Gesprächs“ (Steiner) geführt, das Ungeheuer akademischer und journalistischer Textfabrikation. Natürlich geht es nicht mehr um die reinigende Ekstase des Krieges oder mythologische Bilderwelten, wie Benn sie noch sah. Aber unüberhörbar klingt die harsche Verurteilung aller mediokren Nivellierung durch Medien und Wissenschaft aus Steiners Worten, der damit nicht allein bleibt.

Botho Strauß wird in seinem salbungsvollen Epilog zum Apostel der Steinerschen Offenbarung. Beide glorifizieren zur vordringlichsten Aufgabe die Erlösung des Wortes aus den Klammern des Publizismus und seine Rückbindung ans Geheimnis der Kreation. Der „Vernutzung“ (Heidegger) und Verflachung der Sprache im öffentlichen Diskurs wird die Forderung nach Besinnung auf die verborgenen Wurzeln des Schöpferischen kontrastiert. Die Entscheidungsfrage der Zukunft lautet: Wie kann der Mensch ohne transzendente Bindung leben, gerade jetzt, wo mit dem endgültigen Kollaps des Utopischen die Säkularisierung ihren ambivalenten Höhepunkt erreicht hat?

(Daß nur ein Gott uns noch retten kann, daran glaubt im Ernst niemand mehr. Dennoch herrscht heute eine beflissene Suche nach Resten eines Arkanums, nach Spuren des Übersinnlichen und Rudimenten von Metaphysik. Botho Strauß feiert „spirituelle Reaktionäre“ vom Schlage eines Nicolás Gómez Dávila, Hans Syberberg gräbt nach mythischen Fundamenten unserer Kultur und Peter Handke versenkt sich in die Transzendenz des Trivialen. Massenveranstaltungen wie die letzte Fußballweltmeisterschaft werden von jugendbewegten Journalisten zu dionysischen Orgien stilisiert, von der intellektuellen Begeisterung für eine neue Kulturnation nach frühromantischem Vorbild [K.H. Bohrer] ganz zu schweigen.)

Steiners Geißelung des Byzantinischen in der Postmoderne, der parasitären Wucherung von Kommentar und Interpretation ist freilich nicht neu. Susan Sontag hat schon 1966 die Parole „Against Interpretation“ ausgerufen und eine erotische Lesart des Ästhetischen gefordert. Die Franzosen, allen voran Lyotard, haben mit einer Ästhetik des Erhabenen ebenfalls den Schritt über eine hermeneutische Mumifizierung hinaus getan, wie sie in Deutschland tatsächlich lange Zeit betrieben wurde.

Lyotards Zelebrierung des metaphysischen Daß, der frappanten Unerklärbarkeit des Kunstwerkes, dieses stupende „Da-sein“ und der lustvolle suspense eines Bildes, das plötzlich einfach existiert, Gott weiß warum, diese Ästhetik des Unsagbaren stößt heute auf die größte Aufmerksamkeit. Keine Kausalitäten, keine Komplizierungen, Kunst ist das Hoppla-da-bin-ich einer geheimnisvollen Ejakulation ohne Subjekt. Die unhintergehbare Andersheit des Werkes findet sich schließlich bei Emanuel Levinas, dem jüdischen Philosophen des „Antlitzes“ und einer Ethik „des Anderen“, in der ein nachhumanistisches Menschenideal seine Wiedergeburt feiert.

Neu ist nur die religiöse Emphase, mit der Georg Steiner die Kunsterfahrung ausstattet, das heilige Leuchten einer „sakralen Poetik“. Die moderne Ästhetik der Abwesenheit ist zu einem ästhetischen Simulacrum des Theologischen geworden. Die Welt und die Kunst lesen, „als ob“ Gott auferstanden sei. Diese Forderung Steiners trifft den Zeitgeist. Am Endpunkt einer langen Säkularisationsgeschichte erglüht die Gegenwart noch einmal, als ob ihre Oberfläche Tiefe sei.

Georg Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. Edition Akzente, Hanser Verlag, München 1990, 320 Seiten, 36 DM