: 9.000 Mark Strafe für einen Todesschuß
Würzburger Schöffengericht verurteilte einen Polizisten zu einer Geldstrafe/ Er hatte bei einer Verkehrskontrolle einen 17jährigen erschossen/ Gefährliche Polizeiwaffe und Ausbildung der Beamten interessierte das Gericht nur am Rand ■ Aus Würzburg Bernd Siegler
„Es war eine ganz normale Streife“, beginnt der Würzburger Kriminaloberkommissar (KOK) Hartmut Fertig seine Schilderung der Nacht zum 9. September 1989. Doch bei der „normalen“ Zivilstreife blieb es nicht. In jener Nacht wurde der 17jährige Peter Dittl durch einen Schuß getötet, den Fertig aus nächster Nähe aus seiner Dienstwaffe abgegeben hatte. Dittl starb an einem „offenen Schädel-Hirn-Trauma, ausgelöst durch eine Schußverletzung“, stellte einen Tag später der Gerichtsmediziner fest. Der 39jährige erfahrene Beamte, der sich wegen fahrlässiger Tötung vor einem Schöffengericht verantworten muß, ist sich jedoch keiner Schuld bewußt. „Es tut mir leid, aber ich bin so vorgegangen, wie ich es gelernt und geübt habe“, beteuert er in seinem Schlußwort.
Allein von 1980 bis 1989 erschossen bundesdeutsche Polizisten im Einsatz 122 Menschen. Zwölf Todesschüsse pro Jahr, die in den seltensten Fällen Gerichtsverfahren nach sich ziehen. Meist werden die Ermittlungsverfahren schon von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Kommt's einmal zu einer Anklageerhebung, werden lediglich geringe Geld- oder Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesprochen, so daß die Beamten nicht mit dienstrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen — oder es kommt zum Freispruch, wie eine Woche zuvor in Nürnberg. Das dortige Amtsgericht hatte einen Polizeibeamten, der bei einer Routineverkehrskontrolle einen 19jährigen durch Kopfschuß schwer verletzt hatte, freigesprochen. Es gestand dem Streifenbeamten zu, er habe „unter Streß“ eine Blitzentscheidung treffen müssen. Unter dem Eindruck dieses Urteils steht auch das Würzburger Schöffengericht.
Bei seiner Befragung versucht der Vorsitzende Richter Straub auszuloten, ob der 39jährige KOK Fertig in jener Nacht unter Streß gestanden habe. Doch Fertig betont, er sei „total ruhig und nicht besonders aufgeregt“ gewesen, als er die beiden Jugendlichen kontrollierte. Sie waren ihm bei seiner nächtlichen Streifenfahrt verdächtig vorgekommen. „Die wollen was klauen“, hatte Fertig sich gedacht und befahl seiner Fahrerrin, der Kriminalanwärterin Schäfer, mit dem Polizeifahrzeug hinter dem weißen Daihatsu, in dem die beiden saßen, anzuhalten und das Fernlicht aufzublenden. Dann stieg Fertig aus, öffnete die Beifahrertür des Daihatsu und gab sich als Polizist zu erkennen. Dabei habe er „zur Eigensicherung“ seine Dienstpistole gezogen, jedoch immer auf den Boden gerichtet gehalten. Dann sah Fertig ein Messer in der Mitte des Fahrzeugs liegen. „Das ist der Alptraum, die haben ein Messer“, schoß ihm nach eigenen Angaben durch den Kopf. Trotzdem will er ruhig geblieben sein und betont, er habe „zu keinem Zeitpunkt bewußt die Waffe entsichert oder gar auf eine Person gezielt“. „Vielleicht habe ich den Spannhebel beim Sehen des Messers aufgrund der Ausbildung automatisch gedrückt“, räumt Fertig ein, das charakteristische „Klick“ will er jedoch nicht vernommen haben. Da Peter Dittl auf dem Beifahrersitz „mit den Armen herumgefuchtelt“ haben soll, will Fertig versucht haben, ihn mit der linken Hand auf den Sitz zurückzudrücken. „Plötzlich höre ich einen Knall und habe gemerkt, ich konnte den Mann zurückdrücken.“ Fertig beteuert heute, er habe „zu keinem Zeitpunkt auf den Mann schießen wollen“.
Ein schwacher Druck genügt
Der Beamte Fertig war mit seiner Waffe vertraut. Pro Jahr absolviert er beim Übungsschießen etwa 200 Schüsse, Trefferzahl und Zeit sind dabei vorgeschrieben. Als er 1968 seine Polizeilaufbahn bei der Bereitschaftspolizei begann, hatte er noch eine 7,65 mm-Pistole. Dann rüstete der Freistaat Bayern Anfang der 80er Jahre im Zuge der Terrorismus-Hysterie seine Beamten mit der P7 von Heckler&Koch aus — wegen der „schnelleren Einsatzbereitschaft“, wie Fertigs damaliger Dienststellenleiter Kommenda vor Gericht betont.
Während die alte Waffengeneration noch extra entsichert werden mußte, genügt bei der P7 ein kleiner Druck mit den drei Fingern am Pistolenknauf, um den sogenannten Griffspanner einzudrücken. Nach einem relativ schwachen Druck auf den Abzugshahn löst sich dann der Schuß. Obwohl die P7 insbesondere wegen sich unbeabsichtigt lösender Schüsse und wegen ihrer Gefährlichkeit in Streßsituationen seit ihrer Einführung heftig umstritten ist, rüstete auch Niedersachsen seine Beamten auf die großkalibrige Waffe um. Die 9mm-Parabellum-Munition hat zudem eine enorme Durchschlagkraft. Im Fall Dittl durchschlug sie nicht nur den Kopf des 17jährigen, sondern auch die Scheibe des Wagens und blieb erst in der Tür eines vorbeifahrenden Wagens stecken.
Staatsanwältin Stadler betrachtet den Würzburger Fall als Grenzfrage zwischen „tragischem Unfall und vorwerfbarer Tat“. Sie gestand dem Beamten keine irgendwie geartete Notwehrsituation zu, denn Dittls Kompagnon, ein 19jähiger Lehrling, habe das Messer kurz nach Öffnen der Tür durch KOK Fertig unter dem Sitz verschwinden lassen. Trotzdem, so Stadler, habe der Polizeibeamte die Waffe „minutenlang“ durchgespannt gehalten. Der „erfahrene Beamte“ hätte die Spannung wieder lösen müssen. Sie wertete den Tod des 17jährigen als „mittleres Vergehen“, der Beamte sei allein durch das Geschehen „ausreichend“ gestraft. Sie plädierte für eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 100 DM. Das Schöffengericht schloß sich diesem Strafantrag an.
Die Aussage von Dittls Freund, der Beamte hätte die Waffe eine ganz Zeitlang auf Kopfhöhe des 17jährigen gehalten, fiel dabei völlig unter den Tisch. Auch die Polizeiwaffe und insbesondere die Ausbildung der Beamten, spielten im Urteil eine untergeordnete Rolle, obwohl selbst Ludwig Wasserburger, Sachverständiger des bayerischen Landeskriminalamtes, vor Gericht betont hatte, daß es „zur Spannung der Waffe kommen kann, ohne daß es der Schütze objektiv will“. Während der Nebenklagevertreter, der Kölner Rechtsanwalt Paul Jochum, aufgrund der Gefährlichkeit der P7 bei KOK Fertig die „nötige erhöhte Sorgfaltspflicht im Umgang mit der Waffe“ vermißt hatte, diente die Waffe dem Verteidiger Fertigs als Entschuldigungsgrund. „Daß die P7 im bayerischen Polizeidienst verwendet wird, darf man meinem Mandanten doch nicht anlasten.“ Zur Entlastung seines Mandanten zitiert der Würzburger Anwalt Waldhorn denn auch die Anweisung des bayerischen Innenministeriums, wonach im Dienst die Waffe immer durchgeladen sein müsse, sogar auf der Wache.
Laut Polizei-Leitfaden sollen die Beamten bei einer Personenkontrolle die Waffe „zur Eigensicherung im Anschlag“ halten und „dem Verdächtigen durch entschlossenes Auftreten (Körperhaltung, Sprache, Waffe) deutlich machen, daß er keine Chance hat“. Daß in der Schießausbildung die Beamten zum reflexartigen Schießen auf den sog. „K-5-Bereich“ (Kopf, Brust, Bauch) konditioniert werden, verschweigt Waldhorn jedoch geflissentlich. Ebenso den Begleittext zum Training der sog. „Survival-Schießtechnik: „Um zu überleben, müssen Sie gnadenlos schnell handeln. Sie müssen so gut treffen, daß Ihre Gegner nicht mehr auf Sie schießen können.“
KOK Fertig war „gnadenlos schnell“, schließlich hatte einen Monat zuvor ein Liberianer in Stuttgart auf offener Straße zwei Polizisten mit einem Bajonett getötet und drei verletzt, bevor er erschossen wurde. „Die Beamten haben das natürlich im Kopf“, räumt Mittelfrankens Polizeipräsident Ziegenaus auch im Falle des Kopfschusses am Ostersonntag in Nürnberg ein. Sechs Tage zuvor war ein Polizist in der Nähe von Aachen bei einer Kontrolle erschossen worden. Um diese ständige Gefährdung einzutrainieren heißt es im Leitfaden zur Durchführung von Verkehrskontrollen: „Jede Bewegung kann der Vorbereitung eines Angriffs dienen“. In Würzburg war es das „Fuchteln der Arme“. „Peter sprach immer mit Händen und Füßen“, charakterisierte Dittls Freund das Opfer.
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