"Er hat sich vor sich selbst geekelt“

■ Anklage wegen versuchten Mordes: Beim Mundverkehr stieß ein Mann einem anderen sein Klappmesser in den Hals

“Während gleichgeschlechtlicher Handlungen“ habe Andreas B. dem homosexuellen Hans-Jürgen W. „mit einem Klappmesser in den Hals gestochen“, sagt das Juristendeutsch. Anklage: Versuchter Mord. Und sehr leicht hätte Richter Kratsch es sich machen können — und hätte dabei noch den gerichtsmedizinischen Sachverständigen, einen scharfen Staatsanwalt und in vielen Punkten sogar den Verteidiger auf seiner Seite gehabt.

Er hatte es gestern im Landgericht mit einem Angeklagten zu tun, der keine Miene verzog, wortkarg und wie auswendig gelernt knappe Sätze antwortete, geradezu unbeteiligt tat. Mancher hätte das als „verstockt“ empfinden können. Richter Kratsch aber sah in Andreas B. einen Menschen, der „vermutlich selbst homosexuelle Neigungen hat und die kaschiert, verleugnet vor sich selbst, darüber hinwegtäuscht durch bewußt männliche Haltung“.

Nicht einmal der Verteidiger glaubte dem Angeklagten seine magere Version vom Tathergang, sondern folgte wie das Gericht der Darstellung des Opfers:

Zwei Männer, Dekorateur und technischer Angestellter, leben seit 20 Jahren in einer Lebensgemeinschaft und Liebesbeziehung. Im Januar diesen Jahres gehen sie zusammen aus, um ein Bier zu trinken und lernen in einer Kneipe am Tresen Andreas B., den späteren Täter, kennen. Man kommt ins Gespräch, und Hans-Jürgen W., das spätere Opfer, „merkt, daß es klappen könnte, daß was laufen könnte“.

Sein Lebensgefährte interessiert sich nicht für den Fremden. Nach der nächsten Kneipe geht man zu dritt durch die Wallanlagen Richtung „La Liberte“, einer bekannten Schwulen-Bar. Jürgen ist da kein Unbekannter: Als 1986 Marcus Privenau, Wortführer der rechtsradilaken FAP in Bremen und erklärter Schwulen- Feind, dort mit Gasmunition herumballerte, war Jürgen mit von der Partie. Sein hölzerner Kommentar gestern: „Ich habe mich von Privenau gelöst.“

Jürgen und Andreas machen einen Abstecher (“Wir müssen mal pinkeln“) in den Innenhof des Rembertistifts, der Lebensgefährte kommt langsam nach, läßt den beiden aber Zeit. Von Eifersucht ist nicht die Rede.

„Haben Sie sich an den Geschlechtsteilen angefaßt?“ fragt sachlich Richter Kratsch das spätere Opfer und kriegt durch erfahrene und klare Verhandlungsführung das Kunststück hin, Peinlichkeiten und Voyeurismus nicht aufkommen zu lassen. „Ja. ich bei ihm, und er einmal bei mir. Aber er wollte lieber nach Hause ins Warme.“

Die Wohnung der beiden schwulen Männer aber, da gibt es eine klare Übereinkunft, ist für Geschichten mit Dritten tabu. Jürgen schlägt deshalb vor, im Heizungskeller seines Wohnhauses noch ein Bier zu trinken. Als die beiden schließlich intim werden und Jürgen ahnungs-und arglos mit dem Kopf in Andreas' Schoß vor ihm kniet, greift Andreas, der mit heruntergelassenen Hosen auf einem Stuhl sitzt, in die Jackentasche, holt sein Klappmesser heraus, sticht zu und trifft Jürgen in den Hals, knapp neben der großen Vene, knapp am Tod vorbei. Jürgen, der aus übergroßer Angst “unter sich läßt“, wie der Richter erinnert, rappelt sich hoch, hält den Täter an beiden Handgelenken fest, beruhigt ihn. Er hat Glück.

Beide ziehen sich wieder an, Andreas verläßt das Haus, Jürgen wird im Krankenhaus ambulant versorgt. „Aus reinem Zufall“, so der Sachverständige, ist die blutende Halsverletzung unbedeutend.

Der Täter Andreas will erst im Heizungskeller von Jürgens erotischen Ambitionen völlig überrascht worden sein. Im Stehen habe er ihn dreimal weggestoßen und schließlich „aus Ekel“ das Messer gezogen, um ihn „am Arm zu treffen“. Im 'Liberte' will er entgegen allen Augenzeugenberichten erst gar nicht gewesen sein. Mit Homosexualität hätte er nichts, gar nichts zu tun. Warum dann die Vorgeschichte im Park? Warum Besuche in der Schwulen- Bar? Keine Erklärung.

Wenn er soviel Bier getrunken hätte, wie er behauptet, wäre er mit über sechs Promille mehr tot als lebendig gewesen, stellt der Sachverständige klar.

Staatswanwalt Neugebauer plädiert auf versuchten Mord und fordert fünf Jahre Knast: Höchststrafe. „Er hat sein Opfer nicht vernichten wollen. Er hat sich möglicherweise vor sich selbst geekelt und nicht den anderen, sondern sich gemeint“, begründete Richter Kratsch seine Zweifel an der Tötungsabsicht. Das Urteil: Ein Jahr und neun Monate auf Bewährung, wegen gefährlicher Körperverletzung. Susanne Paas