Der geöffnete Leib

Zur Ausstellung „Leibesvisitation“ in Dresden  ■ Von Elmar Kraushaar

Wenn es unter den Füßen wabert und weich ist und nachgiebig, dann stehen wir auf Körper, Fleisch, Haut. Die Vitrinen vor uns, in geschwungener Reihe aufgegliedert wie Rückenwirbel, beherbergen geschnitzte Ohren aus Elfenbein, Unterarme aus Wachs mit angeschnittenem Oberarm und anatomische Klappfigürchen, „in zugehörigem Kasten“. Im Rotlicht steht neben uns einer, unbeweglich, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und Hutkrempe tief im Gesicht, den kalten Blick auf die Drehscheibe einer Peep-Show gerichtet: „Miss Anatomie“ von 1939 zieht unentwegt ihre Kreise, mit Seidenstrumpf und Straps auf linkem Bein und schwarzer Korsage auf halber Brust. Die rechte Körperhälfte steht offen da, mit Magenhälfte und Darm, Blutbahnen, Muskeln und Sehnen. Der überlegte Blick auf die Körpersegmente und ihre Funktionen teilt sich hier auf in ein erotisches Blinzeln und Tasten.

„Der geöffenet Leib“ heißt dieser Raum der AusstellungLeibesvisitation, seit dem 19.Oktober zu sehen im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden. Dem „historisch sich wandelnden Umgang mit dem Körper nachzuspüren“ — so umschreiben die Ausstellungsmacher Rosmarie Beier und Martin Roth das Ziel ihrer Objekteschau. Der Ideengeber des Historienstreifzugs ist auch Star der Exposition: Der gläserne Mensch. Ein Mensch ist er nicht, sondern ein Mann, und auch nicht aus Glas, aber mit einer Außenhaut aus dem Kunststoff Cellon. Kein modischer Idealkörper mit athletischen Schultern und schmaler Hüfte, dafür von stattlicher Größe, zwei Meter neun. Seine Bedeutung vor allem durch sein verwirrendes Innenleben: Kupferdraht, Aluminium, Blei und Glühlämpchen, ganz bunt.

Konstruiert wurde der Prototyp, ganz im Geheimen, von Franz Tschackert und war erstmals zu bestaunen 1930 zur Einweihung des Deutschen Hygiene-Museums während der II. Internationalen Hygiene- Ausstellung — mit Erfolg und als Wunderwerk gefeiert. Per Knopfdruck hatte der Mannmensch plötzlich für jeden sichtbar ein Innenleben: bunte Blutbahnen, ein blinkendes Herz, ein Darm mit Licht.

Der Erfolg hatte Folgen, mehr als hundert Figuren aus Cellon wurden seitdem in den Werkstätten des Hygiene-Museums hergestellt und in alle Welt verkauft: 71 Männer, 45 Frauen, neun Kühe und fünf Pferde. Der vorerst letzte Transparenzexport, die „Gläserne Zelle“, im Maßstab 100.000:1 ging 1989 in die Naturwissenschaftlichen Sammlungen nach West-Berlin.

Der erste „Gläserne“, der die Leibesvisitation jetzt wieder zusammenhält, kam erst 1988 nach über fünfzig Jahren zurück nach Deutschland, das Museum of Science in Buffalo vermachte den in die Jahre gekommenen dem Deutschen Historischen Museum in Berlin. Jetzt steht er wieder in Dresden in Erwartung der ehrfürchtigen Betrachtung wie ehedem: Unter einem halbrunden Baldachin, auf rundem Sockel, die Arme dem Jenseits entgegengestreckt.

Nach so viel gesundem Protz ein harter Schnitt: Der nächste Raum gilt dem militärischen Körper des Ersten Weltkriegs. Der in Helmen gefaßt war und in Uniform und doch meist nur endete im Rollstuhl mit Handprothese samt aufgeschraubtem Greifhaken und Oberschenkelprothese mit Leibgurt. Putzige Porzellanärmchen, ausgestreckt zum „Sieg Heil“, weisen den Weg zum „Volkskörper“ des Dritten Reichs. Plakate und Tafeln werben für „Wandern mit Kraft durch Freude“ und die „Rassetypen des Deutschen Volkes“ und Diaserien, hergestellt im Hygiene- Museum der NS-Zeit, „klären auf“ über „Volksschädlinge“ und „unwertes Leben“: „Wenn dieser Mann sterilisiert worden wäre, wären nicht geboren: 1 Unsoziale, 4 Taubstumme, 3 Stotterer, 2 Epileptiker, 1 Schwachsinnige, 1 körperl. Anormale“, heißt es zum Dia Nummer 34 aus der Serie „Rassehygiene“.

Der vermeintlich gesunde Körper zu Beginn des Jahrhunderts wollte aber noch mehr, Stärke und Heilung durch Licht, Luft und Sonne. Heilgymnastische Bewegungsapparate sollten hierbei ebenso nachhelfen wie die künstliche Höhensonne „Original Hanau“ und das Massagegerät „Doppel-Punkt-Roller“. Auch die sind in der Ausstellung zu sehen, so wie Röntgenröhren und ein Röntgenfilmbetrachter, Instrumentarien zur Durchleuchtung des Körpers, eine Errungenschaft, die die medizinische Diagnostik zur Jahrhundertwende völlig veränderte: Man muß den menschlichen Körper nicht mehr geöffnen, um in sein Inneres vorzudringen. Ganz nebenbei ließ sich aus der neuen Technik auch noch der „Schuhdurchleuchter“ entwickeln, der bis in die sechziger Jahre zum Schuhkauf gehörte wie das knallgrüne Comic-Heft mit Lurchis Abenteuern.

Der aktuelle Blick auf den durchleuchteten Menschen kommt in der Ausstellung ganz beiläufig und am Schluß: ein Regal bis zur Decke, vollgestellt mit leeren Aktenordnern der Staatssicherheit. Simple Beamtendeckel mit handschriftlichen Vermerken, Nummern und Rubriken — die banale Außenseite des staatlichen Überwachungs- und Bespitzelungsapparates und seiner Verbrechen.

Der museale Ritt durch die Jahrhunderte, vorbei an Skeletten und geöffneten Leichen, an Prothesen und gesunden Körpern, an Insignien einer faschistischen Propaganda und der Ideologie vom ganzheitlichen Menschen, macht plötzlich Halt vor dem eigenen Körper. Der ist nicht dabei. Die Leibesvisitation wird zur medizinischen Visite, der Wirbel vorbei an 228 Exponaten zum Besuch einer Jahrmarktbude. Das erinnert an Freakshow, an Medizinstudium, erstes Semester und Kunstmesse à la documenta. Die Architektur der neugestalteten Räume, „Inseln“ genannt, tragen das ihre dazu bei. Da geht es postmodern zu, mit Säulen und Bögen und diesem gebremsten Blau. Da sind Spielereien dabei und Kinkerlitzchen, und über allem eine Phantasie, die einmal kräftig zugelangt hat in den augenscheinlich optimalen Werkstätten des ehemals sozialistisch organisierten Museums. Das hat natürlich seine Erklärung: „Durch Irritation, Überraschung, Verfremdung soll der eigene Blick auf den Körper bewußt gemacht werden“, heißt es im Begleitmaterial, „assoziativ und skizzierend“ geht die Ausstellung vor und will mit dem „Gläsernen Menschen“ den „Diskurs mit verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen aufnehmen“.

„Ein Museum muß nach vielen Seiten hin offen sein: zur Seite der anderen Häusern und der Wissenschaften, zur Seite neuer Themenfelder und sich verändernder Mentalitäten.“ So schreibt Christoph Stölzl, Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums, dem Veranstalter der Ausstellung, im Vorwort zum begleitenden Buch*. Wieder muß das Museum Offenheit beweisen, zum dritten Mal in seiner Geschichte. In den Eröffnungsreden von 1930 stand das Gebäude, entworfen vom Wilhelm Kreis, der später mit Speer an den Plänen für die Welthauptstadt Germania bastelte, als eine „Kulturtat deutschen Fleißes“ da, „weit hinaus über die deutschen Grenzen... in der Gemeinschaft der Völker führend“. Um dann im folgenden Jahrzehnt ganz da zu sein für „Rassekunde und Rassepflege“, bis hin zur Rüstungsproduktion: 1940 wurden in den Werkstätten der gläsernen Menschen Plexiglashauben für die Meßgeärte von Flugzeugen hergestellt.

Nach der fast völligen Zerstörung des Baus im Zuge der Luftangriffe auf Dresden 1945, wurde das Gebäude kurz nach Kriegsende wieder aufgebaut, mit Unterstützung der damaligen sowjetischen Militäradministration. Und wieder stand das Haus ganz im Zeichen der gesundheitlichen und medizinischen Aufklärung, offen diesmal für den neuen Typus des sozialistischen Menschen. Das einstige humanistische Anliegen des Museumsbegründers, des „Odol“-Fabrikanten Karl August Lingner, sollte verwirklicht werden, „auf einer neuen, höheren Stufe“.

Wer sich aus der Leibesvisitation heute hinaus verirrt in die anderen Ausstellungsräume des Museums, kann die letzten Ausläufer des Modells betrachten, über dem vor so kurzer Zeit noch „Sozialismus“ stand. Da geht es noch hell zu in den Räumen, in simpler Didaktik mit Schaufeln und Videobildern, Merksätzen und Kinderspielen wird unterrichtet und aufgeklärt: über die Gefahren des Rauchens und des Streß', über die richtige Haltung des Kleinkindes in Muttis Arm und die korrekte Zahnbürstenführung im Kindermund. Davon läßt sich, im Vergleich zur inszenierten Körperhistorie, wenigstens handfest Gebrauch machen.

Die Zukunft des Museums ist ungewiß. Zur Leibesvisitations-Eröffnung skizzierte Hausherr Volkhard Netz die Perspektiven des Hauses zwischen Geldnot und neuen Gestaltungsmöglichkeiten. Wieder einmal soll der „neue Mensch“ im Vordergrund stehen, „in seiner Ganzheit von Körper und Seele“. Doch die Forschungsarbeit im Haus wird eingestellt, mehr als 60 der knapp 300 Arbeitsplätze gehen verloren. Und die Abteilung „Lehrmittelherstellung“, Geburtsort der gläsernen Familie, wird neu organisiert, ganz marktwirtschaftlich und als GmbH. Was bleiben wird, sind Ausstellungen. Dafür soll eine Stiftung gegründet werden, unter Beteiligung der deutschen Krankenversicherungs AG. Der Trend ist vorerst klar. Das zeigt die Ausstellung Leibesvisitation: Die „sich verändernden Mentalitäten“ (Stölzl) werden bedient und ebenso das Feuilleton — mit bunten Inszenierungen und beliebigen Reden von „Diskursen“ und „freier Assoziation“.

* Der Gläserne Mensch — Eine Sensation , Herausgeber Beier/Roth, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1990

Leibesvisitation , Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum, Dresden, Lingnerplatz 1, bis zum 28.Februar 1991, von 9 bis 17 Uhr, freitags geschlossen.