: »Polizei hätte zurückziehen müssen«
■ Polizeioberrat Jörg Kramer, Polizeibeauftragter für Fußballfragen, zu Leipzig INTERVIEW
taz: Was sagen Sie zu dem Schießbefehl der Leipziger Polizei, der am Samstag zum Tod eines 18jährigen Berliner Fußballfans führte?
Jörg Kramer: Schon allein der Begriff Schießbefehl hat mich fürchterlich erschreckt. Die Geschehnisse in Leipzig, bei denen drei Menschen verletzt und einer zu Tode gekommen ist, haben mich sehr erschüttert.
Wie beurteilen Sie die Ereignisse in Leipzig aus der Ferne — war der Einsatz der Schußwaffe erforderlich?
Aus der Ferne gesehen und mit allem Vorbehalt meine ich, daß der Schußwaffengebrauch überflüssig war, wenn ich mir die Gesamtentwicklung der Ereignisse und die Vorbereitung der polizeilichen Maßnahmen vor Augen führe.
Was hätten Sie in einer ähnlichen Situtation getan, bei einer Minderheit von Beamten gegen eine Mehrheit von Gewalttätigen?
Dann hätte ich meine Polizeikräfte notfalls zurückgezogen und Fersengeld gezahlt.
In Leipzig waren nur 219 Beamte vor Ort.
Das ist ein Kräfteeinsatz, der mit dem hiesigen nicht vergleichbar ist. Wenn wir in Berlin ein Risikospiel haben, haben wir eine Kräftekonstellation zwischen 400 und 1.000 Beamten.
Hätte die Polizei der Altbundesländer ihren Leipziger Kollegen nicht unter die Arme greifen müssen?
Wenn die Leipziger aus Bayern oder anderen Ländern Unterstützung angefordert hätten, hätten sie natürlich Hilfe bekommen.
Aus Leipziger Polizeikreisen wurde verlautbart, man habe keine Vorabinformation von der Berliner Polizei bekommen, daß Berliner Hooligans im Anmarsch seien.
Das ist vollkommen abwegig. Die Tatsache, daß Berliner Hooligans am 3. November statt zu den Berliner Fußballspielen nach Leipzig fahren würden, um dort Randale zu machen, war uns bereits am 23. Oktober bekannt und wurde mehrfach nach Leipzig weitergemeldet.
Wird die Polizei der ehemaligen DDR jetzt mit Einsatzkonzepten aus dem Westen bestückt?
Ich fürchte, nein. Dabei bedarf es nicht der Einsatzkonzepte, sondern vielmehr starker, intensiver Entwicklunghilfe von Beamten, die aus dem Westen für lange Zeit nach drüben abkommandiert werden müßten. So wie es in Berlin gemacht wird.
Was ist das Berliner Polizeikonzept, wenn Ausschreitungen bei Fußballspielen erwartet werden?
Wir begleiten Gruppen, die wir für gewalttätig halten, bereits in den öffentlichen Verkehrsmitteln hautnah zum Stadion. In Stadionnähe werden sie von Ordnungskräften intensiv nach gefährlichen Gegenständen durchsucht. Im Stadion wird eine konsequenten Trennung zwischen den Gästefans und Gastgegeberfans durchgeführt. In Berlin und den Bundesligastädten gilt in den Stadien absolutes Alkoholverbot. Wir erhöhen bei Risikospielen die polizeiliche Präsenz. Wir arbeiten mit Videoübewachung, und wir haben keine Scheu, Störer aus den Blöcken im Vorfeld in Polizeigewahrsam zu nehmen.
Glauben Sie, daß dieses Einsatzkonzept auch im Ostteil Berlins fruchtet?
Wir praktizieren dieses Konzept seit der Verzahnung der beiden Polizeien am 1. Oktober mit großem Erfolg. Die letzte schwere Auseinandersetzung zwischen Hooligans und der Polizei hat am 23. September in einem Stadion in Köpenick stattgefunden. Interview: Plutonia Plarre
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