piwik no script img

Auf der Seele staubgewischt — Herbert Grönemeyer in Berlin

■ -- Von ADN-Korrespondent Frank Junghänel -- = (Text Nr.: 1067/ Priorität: 4/ ADN, 06. Nov 90, 11:30/ Stichwort: Musik/Grönemeyer) DOKUMENTATION

Berlin (ADN). Grönemeyer braucht keine Vorband, um die Stimmung anzuheizen. Jubelstürme, wie sie andere Popsänger nicht mal zum Schluß eines Auftrittes erleben, branden ihm bereits beim Betreten der Bühne entgegen. Von der ersten Minute an sind die mehr als 8.000 Besucher seines Konzertes am Montag in der Berliner Deutschlandhalle vom jungenhaften Charme des quirligen Rockpoeten gefangen.

Die blonde Strähne ist ab, aber auch ohne »Schüttelfrisur« bleibt sich Herbert Grönemeyer treu. Er ist der singende, keuchende, stöhnende Beweis dafür, daß sich deutsches Liedgut nicht in Schlagerseligkeit und Volkstümelei erschöpft. Mit seinen klugen Metaphern, dem bissigen Humor und den schlichten Liebesliedern trifft er den Nerv seines Publikums, das sich in Zeiten weichspülender Medienberieselung das Zuhören nicht abgewöhnen will. Luxus heißt seine neueste Langspielplatte, und Grönemeyer leistet sich und den Zuhörern den Luxus eines exquisiten Konzerts.

Gleich im ersten Song ein sarkastischer Kommentar zur Lage der Nation: Hartgeld, was kostet die Welt. Grönemeyer macht kein Hehl aus seinen Vorbehalten gegenüber der jüngsten deutschen Entwicklung. Das falsche Harmoniebedürfnis geht ihm »auf den Keks«. »Ein Lächeln liegt auf diesem Land, grinst unerträglich ignorant«, heißt es in einem Song. Der sich auch im Privaten breitmachenden Alle-finden-alles-dufte-Mentalität begegnet er rotzig mit: »Deine Liebe klebt, du gehst mir auf den Geist.« Fast jedes von Grönemeyers Liedern ist ein Mikrokosmos mit Geschichten, Assoziationsräumen, die sich dem Zuhörer öffnen, die er mit eigenen Erfahrungen, Gefühlen ausfüllen kann. Video reflektiert den alltäglichen Sexismus der visuellen Medien, mit der Ballade Sie greift er das tabuisierte Thema Inzest auf. »Wir tanzen, tanzen, tanzen der ganzen Welt vor« — Warnung vor neu auflebendem Nationalismus im rasenden Zug der Wiedervereinigung.

Was auf den Platten zuweilen kopflastig und intellektuell überfrachtet wirkt, kommt live entspannt, druckvoll und locker über die Bühne. Bei allem Hintersinn der Botschaft, das Konzert mit Herbert Grönemeyer bringt zuallererst ausgelassenen Spaß für Musiker und Publikum. Tausende Berliner singen aus voller Kehle Bochum, ich häng' an dir, fordern Kinder an die Macht. Sympathisch linkisch und unprätentiös wirkt das Bühnengebaren des singenden Schauspielers. Eine Hand am Keyboard, den Zeigefinger der anderen kreisend über dem Kopf, hüpft, grätscht und zappelt er durch sein Repertoire. Unterstützt von einer dezenten Lichtshow schafft »Gröni« in der riesigen Halle eine nahezu intime Atmosphäre. »Wische Staub auf deiner Seele«, singt er in einem Song. Liebeslieder wie Ich bin für dich da und Halt mich oder Flugzeuge in meinem Bauch wirken da wie Poliertücher fürs Ego. Wunderkerzen und schmeichelndes Saxophon gehen eine gänsehautproduzierende Symbiose ein.

Im Frühjahr kommt Herbert Grönemeyer im Rahmen seiner Open-air-Tournee durch die neuen Bundeländer noch einmal nach Berlin zurück. Dann wird er auf der Freilichtbühne an der Radrennbahn in Weißensee auftreten. »Männer [wie er] sind auf dieser Welt einfach unersetzlich...«061130 nov 90

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen