: Philosophie zum Nachsingen
■ Stephen Sondheims Musical „Into the Woods“ in London
Die Vögel zwitschern hinter dem noch geschlossenen Vorhang, darauf in goldgewirkten Lettern steht: „Once upon a time...“ Ach, Kindheit, als alles noch Zwitschern und Gold und schnurrendes Imperfekt war! Dann setzt das Orchester ein, klein und schlank und niedlich, wie zum Kurkonzert, und der Erzähler Nicholas Parsons tritt an die Rampe, gebadet in Spotlight, und hebt an zu erzählen: „Es war einmal... in einem Königreich... fern von hier...“ — um so besser. Und dann ist auch schon das Bühnenbild da, ein rumpelnder alter Guckkasten, sympathisch laubgesägt und lackiert, die Kuh kommt auf Rädern, der Vogelschwarm an Fäden, die Maus fährt an der Spirale aus ihrem Loch, und die Menschen in ihren bunten Trachten singen ihr Leiden ab. So soll es sein.
Stephen Sondheims jüngste Broadway-Produktion, vom 'Time Magazine‘ als „die beste Show des kreativsten Kopfes im zeitgenössischen Musiktheater“ begrüßt, verbindet diverse Märchenstoffe zu einem weltweisen Ganzen und hat auch jene Londoner erobert, die sich nicht grundsätzlich gern von fernen Königreichen erzählen lassen, um das eigene zu vergessen. Und ganz vergessen läßt es sich gar nicht, denn im Umkreis von Königshäusern wird es einem leicht märchenhaft und analogisch zumute: Aschenputtel — ist das nicht Princess Diana auf ihrem Weg vom Kindermädchen zur Kronprinzengattin? Jack the Beanstalk und seine vierschrötige Mutter — ist das nicht Her Majesty selbst und der aufrechte Charles, der sein Krongold gegen Ökofarmen tauscht und nur Kritik erntet? Das unfruchtbare Bäckerpaar schließlich auf seinem mühsamen Weg zum ersten Kind — ist das nicht Fergie und ihr robuster Mann, porträtiert in allen vergangenen Martern ausgebliebenen Gebärens? Egal. Märchen stehen Deutungen aller Art nun einmal in sperrangelweiter Wehrlosigkeit offen gegenüber, und Sondheim und sein Autor James Lapine beschränken sich dabei bescheiden auf Andeutungen an Freud, Bruno Bettelheim, Sozialtheorie und Existenzialphilosophie. Nichts ist ganz richtig und nichts ganz falsch, und in jedem Fall klingt es gut.
So müssen die drei genannten Paare denn nach flotter Exposition alle „into the woods“, eine Metapher für das Unbewußte oder das Weltenchaos oder die transzendentale Obdachlosigkeit oder die Unwirtlichkeit der Großstädte. Dort treten ihnen noch Rotkäppchen, Rapunzel, Schneewittchen und andere Figurinen aus dem Weltvorrat der Märchen entgegen. Alle singen schön und formulieren geistreich, und gespielt wird in einem so charmanten Vaudeville-Stil, daß man über soviel Mittsommernachtstraum und Stegreifklamotte den „Sinn“ gnädig aus dem Ohr verliert, denn der ist erstens, wie Sondheim sagt, wir leben in einem sozialen Verband und müssen zusammenhalten, und zweitens, wie Sondheim auch sagt, es geht ganz und gar um die Gedanken, die uns unsere Eltern vermacht haben. Well.
In Wirklichkeit macht der Abend viel mehr Spaß. Man sieht Rotkäppchen immer wieder gern zum Wolf ins Bett kriechen, und die Verwandlung der Kinderschrecken in schieres Vergnügen gelingt durch die Entfesselung von Staunen, von Gelächter, von sentimentaler Anteilnahme. Es sind Wunder im Wald, und Richard Jones' Inszenierung und Richard Hudsons Bühnenbild sind auch ein paar Wunder (nicht: Effekte) gelungen.
Sondheims Musik hat auch hier jene Komplexität, die Madonna vor den Songs zu „Dick Tracy“ zunächst zurückschrecken ließ: sie seien zu schwierig. Wer ihr dann aber doch bravourös vorgetragenes „Sooner or Later“ noch im Ohr hat, kennt auch die Harmonien, auf denen in „Into the Woods“ immer wieder gespielt wird, stellenweise spröde, oft sinnliche Sequenzen, rhythmisch raffiniert phrasiert, einander so ähnlich, daß man manchmal an eine geschlossene Komposition, nicht an eine Liederfolge denkt. Den einzigen Ohrwurm — das Titelmotiv zu „I Wish“ — konnte Sondheim denn auch glücklich als Türklingel an seiner New Yorker Wohnung wiederverwenden.
Nur der zweite Teil des Abends, der, von den bekannten Märchenstoffen weitgehend gelöst, die Konsequenzen der kleinen Schiebereien im ersten Akt zeigt, fällt ab. Die Melodien werden wiederaufgenommen, die Wunder sind die bekannten, die Moral behauptet den Vordergrund. Dezent fühlt sich das Publikum darauf vorbereitet, daß es, wenn der Vorhang fällt, eben nicht „into the woods“ geht, sondern „back to normal“. Roger Willemsen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen