: Das Verbrechen Harald Naegelis lag nicht in der Zeichnung, ...
Das Verbrechen Harald Naegelis lag nicht in der Zeichnung, trug nur halb seine Handschrift, lag nicht im Aufstand der Linie gegen das bürgerliche Gesetzbuch — sondern umgekehrt. Es waren nicht seine gesprayten Spinnen, Mäuse, Spaghettifiguren, die die Staatsgewalt im Tessin und in Stuttgart in Bewegung und den „Sprayer von Zürich“ in Haft setzten, es war ihre besetzte Grundlage: Beton; der gehörte jemanden. Und jemand klagte; die Polizei kam und nahm Naegeli fest. Der Malgrund war eine Eigentumsfrage. Er hätte Blümchen oder ein Loblied auf den Generalbundesanwalt sprayen können — Eigentum bleibt Eigentum. Daher ist seine Zeichnung keine Kunst und frei, sondern eine Übertretung und kriminell. Harald Naegeli traf die Gesellschaft an ihrer empfindlichsten Stelle. Das Eigentum des Menschen ist unantastbar. Wer's mißachtet, wird in Handschellen abgeführt — wie Naegeli 1980 am Stuttgarter Schloßplatz, als er sich die Freiheit nahm, dem Postgebäude ein Zeichen zu setzen.
Noch heute verkauft Naegeli selbst seine Zeichnungen nicht an private, sondern nur an öffentliche Sammlungen, um sie den Gesetzen des Marktes und den Spekulationen der Händler und Auktionshäuser nicht direkt zu unterwerfen. Er nimmt keine Aufträge für „Sprayaktionen im öffentlichen Raum“ an. Er wußte und weiß, daß er illegal arbeitet. Gefängnis ist Handlungsrisiko. Dafür hat er eine Signatur gefunden: Eine lange, leicht gebogene Linie von ganz weit rechts schlägt plötzlich aus in Naegelis Initialen, verschwindet im Zick-Zack nach oben. Dies ist der Weg des Sprayers: klarer Gang zum Ziel, Aktion, kurzes Verschwinden.
Naegeli zeichnet nicht nur auf Beton, sondern auch auf Bütten und Papier aus alten Büchern. Wollte man seine nun ausgestellten Zeichnungen den Traditionen der Kunst zuordnen, so müßten die Namen Twombly, Wols, Masson fallen — und nicht zwangsläufig, wie anzunehmen gewesen wäre, Klee. Es ist eine Strichanordnung zwischen Wille und Sich-gehen-lassen, zwischen Anspannung und Lässigkeit. Suggeriert ist der Versuch, jenen Zustand zu erreichen, den Hegel „caput mortuum“ genannt hatte — in dem alles unleserlich und verdorben zu sein scheint und sich doch zu formieren beginnt: eine sich eben ordnende Katastrophe. Die Ausstellung in der Stuttgarter Staatsgalerie ist auch eine späte Anerkennung von Naegelis „kommunikativ-künstlerischer und politisch-moralischer“ Arbeit (Beuys). Harald Naegeli widmet diese Ausstellung „der gequälten Kreatur, insbesondere den Opfern der Vivisektion“.
Peter Herbstreuth
Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart bis 18. November 1990
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