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Teuflische Wiedergeburt im Hölleninferno

Der AC Milan besteht mit alter spielerischer Klasse 1:0 beim gefürchteten belgischen Club Brügge, aber Milan-Holländer Marco van Basten fliegt vom Platz  ■ Aus Brügge Bernd Müllender

Das Wichtigste vorweg: Gespuckt hat er nicht. Frank Rijkaard, holländischer Milanese, blieb trocken und widerstand jeder Völlerei. Dafür wurde Landsmann van Basten vom Platz gestellt. Doch davon später mehr.

Die lustigen Augen des kleinen Mannes strahlten mit den Scheinwerferkameras um die Wette. Milan- Coach Arrigo Sacchi ließ die Namen der Seinen genußvoll Silbe für Silbe über die Zunge perlen, lobte jedermanns Einsatz, Spielkunst und taktische Detailerfüllung. Sacchis überbordende Erleichterung hatte ihren Grund: Für den AC Mailand war das Rückspiel beim heimstarken Club Brügge ein zukunftsweisendes Match. Ein Ausscheiden des Titelverteidigers nach dem mageren 0:0 im Hinspiel, dem jüngsten Verlust der Tabellenführung in der heimischen Liga und zuletzt allgemein dürftigem Gekicke hätte das Image von der „stärksten Vereinsmannschaft der Welt“ auf unabsehbare Zeit beendet.

Dabei war dem AC Milan, gemeinsam von der westflandrischen Presse und Offiziellen des Clubs, der Gang in die Hölle prophezeit worden. Mit „mysteriösen Kräften“ gedachte man den „lebensgefährlichen Mailänder diavoli“ beizukommen und mit der fußballerischen Variante des Hexenstichs, mit dem die Brügger Spitzenklöpplerinnen einst ihren Ruhm schufen.

Milan-Mogul Silvio Berlusconi hatte mit „Lügen, psychologischer Kriegserklärung und der Kreation von Anti-Stimmung“ (so der „Club“-Clubchef) die Atmosphäre aufgeheizt, als er sich über nicht genügende Stapel von VIP-Karten und unwürdige Unterbringung beklagt, das Bankett beleidigt boykottiert und für die Gastgeber nicht das edelste Vokabular gefunden hatte. Von Mirakeln und Wundern im Inferno des brodelnden kleinen Stadions war die Rede, das so kraß ungastlich ist im Vergleich zur beschaulichen und schnuckeligen Altstadt von Brügge. Schon viele namhafte Teams (Ipswich Town, Roter Stern Belgrad, auch Borussia Dortmund) mußten hier zuletzt Federn lassen, 1976 auch der große AC Mailand.

Spieltaktisch wollte Einheimischen-Trainer Georges Leekens in der Abwehr „ein Bermuda-Dreieck aufbauen, in dem die holländischen Spitzen verschwinden“ sollten. Doch Turbulenzen erzeugten von Beginn an nur die lebhaften Zuschauer in der engen Arena, die als beständig wippender Dauerchor auftraten und sich nur an aufopferndem Defensivspiel ihrer Lieblinge erfreuen konnten. Denn Milan spielte sofort temporeich voll auf Angriff, taktisch gewitzt mit ständig rochierenden Rijkaard, van Basten und Gullit im Sturmzentrum, die dort zwar immer wieder weisungsgemäß verschwanden, aber anders als im richtigen Leben erneut und erneut auftauchten. Selbst Milans allgegenwärtiger Libero Baresi suchte bisweilen die Herausforderung im Bermuda-Dreieck der Mittelstürmerposition. Die bedingungslose Offensive als beste Verteidigungskunst ist nicht unbedingt üblich für ein italienisches Team, ohne Not das Heil ganz vorn zu suchen, stets forecheckend, schnell, direkt, mit verwirrenden Ballpassagen und risikofreudig.

45 Minuten lang hielt das Brügger Bermuda-Elfeck gegen die italienisch-holländische Starelf mit der vielhundertfachen Länderspielerfahrung. Das entscheidende Tor schoß schließlich ein weithin Unbekannter in einem unerwarteten Moment. Angelo Carbone, für den verletzten Donadoni dabei, traf Sekunden nach der Pause krachend ins Dreieck. Alle Versuche der Brügger, die tiefe Kluft zwischen Anspruch an die eigene Klasse und die frustrierende Wirklichkeit zu schließen, scheiterten mit einem ideenlosen kick and rush und einigen wenigen Schußversuchen, die nur um Frittenbreite das Tor verfehlten.

Und sie scheiterten an einem unfähigen schottischen Linienrichter, dessen Abseitsverständnis in argem Gegensatz zum Regelwerk stand. So wedelte er ein Kopfballtor des belgischen Altinternationalen Jan Ceulemans hinfort und verhinderte einen Foulelfmeter durch erneuten — falschen-Fahneneinsatz, wofür er mit Feuerzeugen und landestypischen Kartoffelstäbchen beworfen wurde.

Das erregte Volk bekam nur ein Ersatzgeschenk. Brügges fußflinker Abwehrrecke Pascal Plovie, der sich mit Marco van Basten grandiose Duelle geliefert hatte, sank kurz vor Schluß in einem armunterstützten Laufduell mit dem Holländer wie ein sterbender Schwan zu Boden. Referee Syme sah rot und zeigte Rot.

Van Basten stand hernach der Presse mit erhobener linker Faust Rede und Geste und wollte ausdrücken, wie sich die Arme der Sprintenden miteinander verhakt hätten und daß Plovies Kopf ungewollt irgendwie dazwischengeraten sein müsse. „Ich weiß nur, daß ich nicht weiß, was genau ich gemacht haben soll“, gab der Torjäger mit sinnierender Unschuldsmine zu Protokoll. Ihm droht die obligate Sperre, und die Hoffnung auf die Münchner Bayern in der nächsten Runde ist darum erstmal ganz weit hintangestellt.

Zu ähnlichem Tiefsinn war ein bestgelaunter Ruud Gullit aufgelegt — nach seinem 75minütigen Auftritt, bei dem ihm einiges Elementare mißlang, aber gelegentlich geniale Ideen von alter Güte aufblitzten. „Die Aktion nach der Aktion“ mache ihm in entscheidenden blitzschnellen Spielsituationen noch Schwierigkeiten, hatte Gullit im Frühsommer die ersten Spiele nach seiner langwierigen Knieverletzung fußballphilosophisch kommentiert. In Brügge war er mit den Aktionen vor und nach den Aktionen zufrieden, meinte aber genenüber der taz, so ganz der alte sei er doch noch nicht: „Ich hatte eine gute Periode zu Beginn der Saison. Aber in dem Moment, wo man glaubt, alles sei automatisch wieder wie früher, kommt dann die schwere Periode, ja, wirklich, quasi die Periode nach der Periode“. Die Aktion nach der Periode ist immer die schwerste (Ruud Herberger).

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