: Für eine Sicherheitsunion von Wladiwostok bis San Francisco
Zehn Thesen zu sicherheitspolitischen Alternativen für Osteuropa/ Grenzen politisch stabilisieren, menschlich relativieren/ Übergangslösungen notwendig ■ Von Walter Romberg
Die Thesen zu sicherheitspolitischen Alternativen für Osteuropa sind von Walter Romberg vor der deutschen Einheit formuliert worden, als es noch zwei deutsche Staaten gab, beziehen sich insofern zumindest teilweise auf eine Situation, die seit dem 3.Oktober nicht mehr der geopolitischen Landkarte entspricht. Das heißt allerdings nicht, daß sie ihre Gültigkeit verloren hätten. Im Gegenteil: These 6 zum Beispiel, aus aktuellem Anlaß nicht mehr ganz zutreffend, ist dennoch von grundsätzlicher Bedeutung.
1. In keiner Region der Welt hat sich in so kurzer Zeit die öffentliche, aber auch vor allem die veröffentlichte Meinung zu Sicherheitsfragen so stark verändert wie dieser Tage in Osteuropa: Während die militärische Komponente der äußeren Sicherheit wesentlich an Bedeutung verloren hat, sind die Bedrohungen durch ungünstige ökonomische, soziale und ökologische Bedingungen in den Vordergrund gerückt.
2. Die emanzipatorischen Prozesse in den WVO-Ländern (die im Warschauer Vertrag organisierten Staaten, d. Red.) haben für Europa die Chance aufgetan, sich zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraum zu entwickeln. Es ist nun an Westeuropa, dem entgegenzugehen.
Das Tempo dieser Entwicklung wird von Region zu Region unterschiedlich sein und auch die verschiedenen Aspekte unterschiedlich schnell erfassen. Besonders dringlich ist jedoch die Schaffung einer Europäischen Umweltunion, wie auch die Zusammenarbeit im humanitären Bereich und auf dem Gebiet der Menschenrechte.
3. Die Entwicklung hin zu einem einheitlichen Wirtschafts- und Rechtsraum Europa ist nicht gleichbedeutend mit der Entwicklung zu einem zentralistischen, homogenisierten Staatsgebilde. Die Erfahrungen Osteuropas lassen vielmehr eine stark von regionalen Interessen und Verbindungen geprägte multikulturelle Föderation als erstrebenswert erscheinen.
4. Akzeptable sicherheitspolitische Alternativen für Osteuropa müssen zum Ziel haben,
— den militärischen Faktor durch Instrumente friedlicher Konfliktlösung, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem sowie durch Garantien für sichere, aber auch durchlässige Grenzen weiter zu reduzieren;
— den Wirtschaftsgradienten zu Westeuropa zu verringern;
— eine Umweltschutzunion zu schaffen.
Eine Stabilisierung undemokratischer Herrschaftsformen, mafiöser Entwicklungen und des militärisch- industriell-bürokratischen Komplexes muß überall in Europa verhindert werden.
5. Obwohl ein gesamteuropäisches System kollektiver Sicherheit anzustreben ist, sind Übergangslösungen erforderlich. Der Warschauer Vertrag ist auf dem Wege, ein Bündnis für eine Übergangszeit mit konsultativen und politischen Aufgaben zu werden. Alle Bündnispartner der Sowjetunion sind im Begriff, ihre Armeen auf defensive Territorialtruppen herunterzurüsten. Dies sollte nicht einfach durch Verringerung der Streitkräfte, sondern auch durch Umstellung auf defensive Bewaffnungsstrukturen mit Sperraufgaben und weitgehenden Verzicht auf hochmobile Einheiten hoher Schlagkraft kombiniert sein.
Im Gegenzug sollte die Nato sich zu radikaleren Schritten als bisher vorgeschlagen entschließen:
— Aufgabe des Abschreckungskonzeptes mit Verzicht auf Massenvernichtungsmittel und Vorneverteidigung, Selbstbeschränkung in Modernisierungsvorhaben;
— gegenseitige Einbeziehung beider Bündnisse in ihren jeweiligen Konsultationsprozeß mit dem Ziel, eine Sicherheitsunion von Wladiwostok bis San Francisco zu schaffen (SIPRI hat die Schaffung einer europäisch- atlantischen Allianz EATO vorgeschlagen).
— In eine zu bildende europäische Friedensstreitkraft sollten auf jeden Fall die neutralen und nichtpaktgebundenen Staaten Europas mit besonderem Gewicht einbezogen werden. Ihre Aufgabe wäre die Verhinderung bewaffneter Grenz- und Nationalitätsstreitigkeiten.
Leider muß man feststellen, daß die bisherigen Pläne den hochmobilen, sehr schlagkräftigen Charakter der Nato-Streitkräfte nicht verändern werden. Von der Defensivstrukturierung, wie sie sich in den WVO- Staaten herauszubilden beginnt, sind sie noch weit entfernt.
6. Zur Vermeidung eines „Versailles-Komplexes“, von fremden Mächten zu bestimmten Einschränkungen und Bedingungen verpflichtet worden zu sein, können beide deutschen Staaten aus eigener Souveränität im Rahmen des Vereinigungsprozesses zum Beispiel im 2.Staatsvertrag sich Selbstbeschränkungen und Verpflichtungen auferlegen hinsichtlich Truppenteilen und Bewaffnungsstrukturen (ABC-Waffenverzicht) wie auch der Ablehnung faschistischer und grenzrevisionistischer Entwicklungen.
7. Im Zuge des Rückgangs der militärischen Bedrohung der Sicherheit ist der Schritt der DDR nachahmenswert, die Wehrpflicht durch eine Dienstpflicht zu ersetzen, die eine freie Wahlmöglichkeit des einzelnen für Wehr- und Zivildienst einschließt. Entsprechend einem Vorschlag des DDR-Abrüstungs- und Verteidigungsministers könnten mit den osteuropäischen Nachbarn gemeinsame Militärbrigaden eingerichtet werden, die bald eine Scharnierfunktion im Sinne blockübergreifender Strukturen ausfüllen können. Als Vorstufe zur Bildung europäischer Sicherheitsstrukturen könnten sie Grenzen in Europa politisch stabilisieren, aber menschlich relativieren.
Ebenso sind multinationale Abteilungen Zivildienstpflichtiger vorstellbar, die gemeinsam in den eigenen Ländern oder in der Zwei-Drittel-Welt Aufbau- und Umweltschutzarbeit leisten.
8. Um ein Klima des Vertrauens und der Verständigung zu schaffen, muß ein vielfältiges Beziehungsgeflecht zwischen Ost- und Westeuropa aufgebaut beziehungsweise verstärkt werden. Gerade die DDR ist durch Tausende Verträge mit den Ländern Osteuropas verbunden. Diese Bindungen sollten durch den deutschen Vereinigungsprozeß nicht ersatzlos gestrichen werden. Ihre Weiterentwicklung sollte — für die Öffentlichkeit durchschaubar — in Verhandlungen gesichert werden.
9. Die Länderstruktur des vereinigten Deutschlands bietet die Chance, auf regionalem Niveau mit osteuropäischen Partnern zusammenzuarbeiten. Betriebe diesseits und jenseits der Oder-Neiße-Grenze könnten gemeinsam mit Drittpartnern zum Beispiel in Frankreich Joint- ventures bilden.
Dies ist besonders wichtig, da durch Inkompatibilität der Währungen und die Auswirkungen der Mangelwirtschaft sich in diesen Gebieten negative Emotionen der Bevölkerung beider Seiten aufgestaut haben.
10. Äußerst wichtig und dringend sind alle Schritte, die die Sowjetunion bei der personellen Konversion ihrer Streitkräfte unterstützen. Auch hier sind Joint-ventures beim Aufbau von Betrieben der Nahrungsgüterwirtschaft, der Leichtindustrie und der Infrastruktur denkbar. Bereits die Rückkehr der AfghanistanTruppen führte zu schwer abbaubaren sozialen Problemen. Der Vorschlag, die im Ostteil Deutschlands stationierten sowjetischen Truppen vor ihrer Rückkehr für Berufe auszubilden, die zugleich die Konversion der von ihnen genutzten militärischen Anlagen ermöglicht, ist ausgesprochen hilfreich.
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