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„Ich habe bis zuletzt an die Mauer geglaubt“

■ Die junge Familie Pohl wohnte an der Mauer, die den Sozialismus schützte/ Seit dem Herbst 89 halten sie das Unfaßbare mit der Videokamera fest

Die Elsenstraße 41 in Berlin-Treptow lag direkt an der Mauer. Haustür und Fenster der Parterrewohnung in Richtung des Westberliner Bezirks Neukölln sind noch heute zugemauert, kaum 50 Meter weiter gucken die Fenster des Mietshauses Elsenstraße 42 rüber. Dazwischen, wo einmal die Heidelberger Straße verlief, war seit dem 13. August 1961 der Todesstreifen.

Im ersten Stock über den zugemauerten Fenstern wohnt seit einigen Jahren die Familie Pohl*. „Als ich einzog, hatte ich die ersten Nächte Alpträume“, erinnert sich Sylvia Pohl. Aber nicht etwa wegen der Grenzer, sondern wegen dem Westen. In der Schule hatte sie immer gelernt, der Westen sei schlimm, irgendwie „böse“. Sylvia Pohl kam aus der Provinz, Leipziger Gegend, und glaubte, was man in der Schule erzählt hatte. Der „Stabü“- Lehrer war bei der Armee gewesen, 1961, und hatte mitgebaut, war stolz darauf. Die Westler waren „irgendwie schlimm“ — wie, blieb unklar. Vielleicht würden sie schießen...

Wie stabil halten die Lebenslügen des realen Sozialismus bei jemandem, der so dicht an der Mauer, so nah an der Realität lebt? Wie lange läßt sich die Ansicht halten, die Mauer schütze das eigene Land? „Ich habe das bis zuletzt geglaubt“, sagt Sylvia Pohl — auch wenn sie nie in der SED war, politisch auch nicht engagiert. Das Vierschichtsystem auf dem S-Bahnhof Warschauer Straße ließ kaum Zeit und Nerven für mehr als die paar eckigen Runden des Privaten.

Irgendwann, im Sommer war's, waren ihnen beim Spiel auf dem Balkon die Würfel runtergefallen — eine halbe Stunde dauerte es, bis die Grenzpolizei sie hochwarf. Kommunikation mit denen, die dort unten das Land bewachten, war strengstens untersagt. Schräg gegenüber vom Balkon der Pohls war ein sogenannter „Aussichtsturm“, auf den neugierige Touristen aus dem Westen stiegen. „Die haben uns bestaunt wie die Affen im Zoo.“

War da nie das Gefühl, eingesperrt zu sein? Keine Neugier, da mal hinzugehen? „Man hat eigentlich nicht darüber nachgedacht. Manchmal haben wir rumgesponnen, dann war aber immer gleich die Angst: Vielleicht ist es doch besser, wenn die Grenze nicht offen ist.“

Am 9. November 1989 war Sylvia Pohl früh ins Bett gegangen; am 10. hatte sie Frühschicht. In der Früh versammelten sich die Kollegen auf ihrem Bahnhof Warschauer Straße, der nahe am Übergang Oberbaumbrücke liegt. Die Kollegen erzählten, daß sie kurz im Westen waren. „Das war ein Gefühl — das kann man nicht beschreiben.“ Jede S-Bahn aus Richtung Friedrichstraße war knüppelvoll, der Bahnhof schwarz vor Menschen. Völlig fertig sei sie nach der Schicht gewesen. Der Westen, einen Steinwurf vom Balkon weg, war immer so unendlich fern gewesen, unerreichbar. Der Mann ist am 10. rüber und brachte ein Pfund Kaffee mit. Erst zwei Tage später fuhr dann Sylvia Pohl zusammen mit ihrem Mann endlich rüber. Wie war das? „Die Menschen waren richtig anders, das kann man nicht beschreiben.“ Gar nicht böse. „Das, was wir gelernt haben, das haut absolut nicht hin.“

„Die wollten ja, daß man sie belügt“

Die Pohls haben sich als erstes eine Videokamera gekauft. Sie filmen alles, „was mit der Grenze zusammenhängt“ — ihre besondere Art, die unfaßbare Veränderung festzuhalten. „Wir haben das alles verfolgt, von unserem Balkon aus.“ Das Privatleben an der Grenze war vom „Passierschein“ bestimmt. Dort durfte nur wohnen, wer wochenlang überprüft war. Besuch mußte drei Wochen vorher angemeldet werden auf einem „Einreise“-Formular, auf dem auch der Grund des Besuchs angegeben werden mußte. „Einfach feiern im Grenzgebiet war nicht erlaubt. Da mußte schon ein ,Geburtstag‘ vorgetäuscht und eben wochenlang vorher geplant werden.“ Anfangs hatte sie selbst keinen Passierschein und mußte immer den Moment abpassen, in dem die patrouillierenden Volkspolizisten gerade woanders hinschauten. Wenn Freunde kommen sollten, wurden sie als Hilfe bei „Malerarbeiten“ deklariert. „Wie oft wir hier renoviert haben...“, spottet Sylvia Pohl, „die wollten ja, daß man sie belügt.“

Stasi-Kontrolle im Haus? Immerhin steht die Elsenstraße 41 mit „02.04KW“ im der Liste der Stasi- Objekte, also gab es hier eine „konspirative Wohnung“. Sylvia Pohl hat „das mit der Liste“ erst durch die taz- Veröffentlichung erfahren, „das wußten wir nicht“. Bis heute weiß sie nicht, welche Wohnung die „02.04“ ist. Was stimmt noch am eigenen Leben, rückblickend? Der Mann hat seinen Armeedienst in Adlershof verbracht, in der Stasi-Kaserne Felix Dserschinski, die die SED-Prominenz zu bewachen hatte. Seitdem die Bilder von Wandlitz durchs Fernsehen gingen, von den SED-Oberen, die da „wie die Maden im Speck“ lebten, seitdem von Devisenbetrug und anderen verwerflichen Dingen die Rede ist, ist Sylvia Pohl richtig empört über das alte Regime. „Stasi- Verbrecher“, kommt ihr über die Lippen.

Keine Hoffnung auf schnelle Besserung

„Ich wollte die Einigung nicht“, sagt sie. Sie hat SPD gewählt beim letzten Mal. „Vom Sozialismus zum Kapitalismus — wenn schon, dann etappenweise.“ Aber dann sind so viele abgehauen, daß es schnell gehen mußte. Lafontaine? „Der quatscht manchmal ganz schön kariert.“ Er habe „kein Geld geben wollen“, wollte die Währungsunion nicht. „Ich weiß nicht, ob ich am zweiten Dezember wählen gehe.“ Ob's jetzt besser wird? Daß sie in drei Jahren einen Krippenplatz bekommt und wieder arbeiten gehen kann, glaubt sie nicht: „Da habe ich keine Hoffnung.“ Denn jetzt „kommen die Kinder aus dem Westen“, da sind Krippenplätze nicht mehr selbstverständlich. Einkaufen geht sie meist im Osten in der alte HO-Kaufhalle, die jetzt auch mit Westwaren bestückt ist. Zwar ist der Bolle in Neukölln größer, aber „so ist mir das sicherer.“ Denn wenn sie im Geschäft ist, steht der Wagen vor der Tür, und im Westen, sagt sie, werden schon mal Kinder einfach geklaut...

Sylvia Pohl kommt von sich aus nicht auf den Verkehrslärm, der anderen Anwohnern des Mauerstreifens als erstes einfällt, wenn man nach den Veränderungen fragt. Aber auch sie erinnert sich an die Ruhe früher. „Es war himmlisch“ ohne den Verkehr und die Heidelberger Straße unter dem Balkon.

Das Schild „Achtung Grenzgebiet“ in deutsch und russisch steht heute bei Pohls im Badezimmer unter dem Waschbecken; heute ist an seinem alten Platz eine Baustelle — und ein Schild „Betreten auf eigene Gefahr“. Am Straßenabschnitt, wo die Staatsgrenze war, erleuchten die grelle Peitschenlampen noch heute die Nacht. Klaus Wolschner

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