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Der unprogrammierte Athlet

■ Weltbestzeit von Nils Rudolph aus Rostock zum Auftakt der ersten gesamtdeutschen Schwimm-Meisterschaften

München (taz) — Zum gängigen Bild des DDR-Spitzensports gehörte der programmierte Athlet. Der Spitzensportler hatte sich nach den bewährten Vorgaben seiner Macher (Trainer, Arzt, Physiotherapeut) auszurichten. Individuelle Abweichungen vom Plan wurden nicht geduldet. Passierten sie trotzdem, bedeutete dies das Ende der Karriere.

Einer, der keinen dieser durchgestylten Lebensläufe aufweist, ist der Rostocker Schwimmer Nils Rudolph, der zum Auftakt der ersten gesamtdeutschen Meisterschaften in München mit seiner sensationellen Weltbestzeit (24,39 Sekunden) über 50 Meter Schmetterling dem Superstar der Branche, Michael Groß, die Schau stahl.

Der heute 25jährige Facharbeiter für Schiffselektronik schwimmt erst seit drei Jahren wieder. Von 1983 bis 1987 war er zwangsweise aus dem Verkehr gezogen worden. Bei einem Juniorenwettkampf in Rom hatte Nils Rudolph einem amerikanischen Schwimmer für einige Dollar ein DDR-T-Shirt verkauft. Ein Delikt, das damals wie Hochverrat geahndet wurde. Nils Rudolph wurde das Schwimmen verboten. Sein Vater Klaus, der in Berlin als Verbandstrainer fungierte, wurde nach Rostock strafversetzt. Nils Rudolph arbeitete auf der Rostocker Werft. Die Lust am Schwimmen schwand immer mehr. Das harte Leben auf der Werft vermittelte dem 1,94 Meter großen Modellathleten einen Zugang zur DDR-Realität. Radfahren und Laufen in Hobbysportmanier reichten ihm, um sich fit zu halten. Erst vier Jahre später, inzwischen war Nils Rudolph 22 Jahre alt, fand er über die Schwimmgemeinschaft der Uni Rostock wieder zurück zum Wasser, eigentlich eher zum Baden. „Ich will beim Sprintpokal in Fürstenwalde starten“, überraschte er seinen Vater. „Blamier mich bitte nicht und trainiere wenigstens vier Wochen vorher“, riet ihm Klaus Rudolph. Der Sohn tat es bei ihm und wurde auf Anhieb Zweiter. 1988 reichte es dann bereits zum Meistertitel über 100 Meter Schmetterling.

Nils Rudolph profitierte dann von der Wende. Als einziger aus der hochkarätigen DDR-Schwimmzunft hat er seit Anfang des Jahres einen persönlichen Sponsor, einen Stahlunternehmer aus Verden, der zuvor bereits mit den Rostocker Handballern einen Werbevertrag abgeschlossen hatte. Der Sponsor beschaffte das begehrte Westauto und finanziert Wettkampfreisen und Trainingsaufenthalte in Übersee. So trainierte Rudolph jetzt unmittelbar vor München vier Wochen in Los Angeles. „Die Atmosphäre ist in Rostock durch die drohende Arbeitslosigkeit vieler Trainer zur Zeit sehr depressiv, da war die kalifornische Sonne genau richtig.“

Die Teamkollegen der Ex-DDR, die sich ein letztes Mal kollektiv für eine Meisterschaft vorbereitet haben, nehmen ihm sein Einzelgängerdasein übel und sehen ihn wie die Lagen-Olympiasiegerin Daniela Hunger als „Abtrünnigen“.

In Rostock ist die Situation alles anders als rosig. 15 Trainer werden dort entlassen. Nur einer soll den zukünftigen Bundesstützpunkt leiten. Der 50jährige Klaus Rudolph hofft, daß er als amtierender Cheftrainer der vom Deutschen Schwimm-Verband (DSV) Auserwählte sein wird. Eine Zusage vom DSV hat er, dessen Frau als MTA in der Sportmedizin bereits arbeitslos ist, bis heute allerdings nicht.

Die Perspektive für seinen Sohn sieht er auf den kurzen Freistilstrecken. Trotz seines Schmetterlingsrekords wird Nils Rudolph bei der WM in Perth/Australien (3. bis 13.1.) die 50 und 100 Meter Kraul schwimmen. „Die Leistungsdichte auf der 100 Meter Schmetterlingsdistanz (die 50 Meter gehören nicht zum WM-Programm) ist in der Welt zu groß“, sieht Klaus Rudolph größere Siegeschancen in der anderen Stilart. Eine dann notwendige Steigerung seiner Bestzeit (49,71) um mehr als eine Sekunde, um in die Nähe der Rekordmarke von Matt Biondi (48,42) zu kommen, traut er seinem Schützling zu. Karl-Wilhelm Götte

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