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Jede Menge Uraufführungen

Ein Festival mit jüdischen Komponisten in Köln  ■ Von Frieder Reininghaus

Mit fünfzehn Ur- und fünf Erstaufführungen — in Summe mehr als 80 Prozent neue Stücke bei einem Dutzend Termine — dokumentierte der Westdeutsche Rundfunk als Veranstalter der Reihe Begegnung der Diaspora mit Israel entschiedenen Willen zur Musik der Gegenwart. Es stellte sich ein respektabler Querschnitt durch die Provinzen dessen her, was sich bis vor einem Jahrzehnt als „musikalische Avantgarde“ begriff und was jetzt, mit weniger eindeutigem Anspruch, dort nachrückte: ein Querschnitt durch die höchst unterschiedlichen Schreibweisen der Neuen Musik in der nördlichen Hemisphäre.

Mit der „Diaspora“ sind die in aller Welt lebenden Juden gemeint — im Unterschied zu denen im Staat Israel. Der aus der Religionsgeschichte stammende Begriff, der jeweils die unter Andersgläubigen lebenden Rechtgläubigen meint, trifft freilich auf die nicht mehr zu jüdischen Gemeinden gehörenden Künstler wie Ligeti, Kagel, Schnittke sowenig mehr zu wie er für Mendelssohn, Mahler oder den Schönberg vor 1933 sinnvoll gewesen wäre. In der begrifflichen Aporie aber spiegelt sich das Problem, mit dem sensibel umzugehen gewiß Anliegen der Betreiber war. Denn „jüdisch“ meint einerseits eine religiöse Zugehörigkeit (die in vielen Fällen aber nur bei den Vorfahren gegeben war), andererseits die zu einem Staatsvolk; weitergehend jedoch, wie György Ligeti in Köln definierte, die Zurechnung zu einer durch „aufgezwungene Absonderung“ entstandene Gruppe.

Verschiedene Haltungen zur jüdischen Tradition

Wie bei vergleichbaren Querschnittsveranstaltungen, so reichte die Auswahl der Stücke auch beim jüngsten WDR-Festival durch höchst unterschiedliche Zonen. In diesem Wochenmarkt machte sich der zur New Yorker Szene gehörende Richard Teitelbaum mit „Golem“ bemerkbar, einer ansatzweise theatralisch konzipierten Musik, deren — in der Realisierung kaum bemerkbare — Grundidee auf das Motiv des stummen künstlichen Menschen in der jüdischen Mystik zurückgeht, der mittels Buchstabenkombination von bedeutenden Gelehrten belebt und wieder stillgelegt werden kann, sich als Helfer in Zeiten der Verfolgung erweisen kann, aber auch als schreckliche Bedrohung.

Die Legende scheint Teitelbaum „eine immer passender werdende Metapher für die Gefahren unkontrollierter Gewalt zu sein“. In seinem Stück werde der Golem durch verschiedene „interaktive Systeme“ dargestellt: wenn beispielsweise ein Computer auf das, was auf verschiedenen Keyboard-Instrumenten und von der menschlichen Stimme „interaktiv“ vorgetragen wird, selbständig reagiert, antwortet und so eingreift, dann werde „der Golem lebendig und beginnt, mit eigenem Geist zu agieren“.

Ein Gegenmodell zu solcher künstlerischen Intelligenz, für die der Computer mitmischt, ist der späte, vielfach gebrochene Expressionismus Alfred Schnittkes, der heute zu den bedeutendsten Tonsetzern in der Sowjetunion zählt. Sein Vater war ein aus Frankfurt ins Gebiet der Wolgadeutschen ausgewanderter jüdischer Journalist, er selbst läßt sich kaum mehr der „Diaspora“ zurechnen. Seine Orchester-Aphorismen erwiesen sich freilich auch in Köln als brillante Musik, prägnant und voll geschichtlicher Erinnerungen, die wie alte Diamanten von neuer Goldschmiedearbeit eingefaßt werden.

Ganz anders als Teitelbaum bezieht sich Ben Zion Orgad auf jüdische Tradition. Orgad wurde in Gelsenkirchen (mit dem Familiennamen Büschel) geboren und kam bereits 1933, als Siebenjähriger, nach Palästina. Er absolvierte die Musikakademie in Jerusalem und setzte in den späten vierziger Jahren seine Ausbildung in den USA fort; seine Symphonie Hatsvi Israel wurde 1950 vom Israel Philharmonic Orchestra unter Leitung von Leonard Bernstein uraufgeführt. In der Hauptsache schrieb er Vokalwerke, häufig mit archaischen Texten. Von 1950 bis 1988 war er im israelischen Ministerium für Erziehung und Kultur tätig, zunächst als Aufsichtsbeamter, später als Abteilungsdirektor.

Von Orgad wurde 1970 das Oratorium Die alten Judengesetze geschrieben, im vergangenen Jahr überarbeitet und jetzt in Köln uraufgeführt: ein ausladendes Passions- Stück für fünf Solostimmen, Doppelchor und Orchester, dessen Texte aus Chroniken und Texten des Rabbi Schlomo ben Schimschon aus der Zeit der ersten Kreuzzüge stammen und an die Juden-Progrome im deutschen Mittelalter erinnern. Vier Solisten repräsentieren die handelnden Personen (wie Papst Urban II., der zum Kampf für die Befreiung des „Heiligen Landes“ aufrief und für den Mord an Juden Absolution erteilte); der Knaben-Sopran steuert biblische Texte in der traditionellen Bibelkantillation der jüdischen Gemeinden bei, die dem Oratorium einen semisakralen Charakter verleihen.

Von solchem musikalischen Zitieren hielt sich Mauricio Kagel bei seinen jetzt ebenfalls uraufgeführten „Liturgien“ fern, die jüdische Gebetstexte mit islamischen Formeln und Passagen des katholischen Mess-Textes kombinieren. Kagel, irritiert und belustigt von der Rivalität der verschiedenen religiösen Kräfte rund um den Jerusalemer Tempelberg, ging es um die Idee des Monotheismus: der eine Gott müßte allen die Hauptsache sein und sie mehr verbinden als entzweien. So darf Kagels neues oratorisches Großwerk als Appell genommen werden. Immer wieder in Einstimmigkeit einmündend, richtet es sich mit aufklärerischer Intention gegen religiösen Fanatismus. Freilich drängen sich manche Bedenken, die sich bereits 1985 bei seiner „St.-Bach-Passion“ einstellten, auch bei diesem neuen Stück wieder auf: daß da eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der Absicht der Text-Montage und den in Bewegung gesetzten musikalischen Mitteln klafft.

Widder-Horn und Synagogen-Gesang

Wiederum eine ganz andere Position zur jüdischen Kulturgeschichte weist das von Tabea Zimmermann virtuos interpretierte Viola-Konzert des aus der Sowjetunion nach Israel emigrierten Arztes und Komponisten Mark Kopytman auf. Der Autor dieses Konzerts steht hörbar in jener vom „Klassisch-Romantischen“ herkommenden Tradition, die sich durch die politischen Verhältnisse in Osteuropa anders als im Westen halten konnte. Für das Bratschen-Konzert griff er auf Gesänge jemenitischer Juden zurück, ohne direkt Zitate einzuarbeiten. Deren „einzigartiger Chorgesang“ inspirierte auch Alvin Curran, der ihn an der Klagemauer aufzeichnete und als präpariertes Band seinen Improvisationen auf den atavistischen Widder-Hörnern und der computergesteuerten Klangmodifikations-Maschinerie zuspielte.

Die Originalgestalt solcher liturgischen Gesänge, von Männern ohne instrumentale Begleitung vorgetragen, war Thema der Schlußveranstaltung: Ethnische Klänge aus der Tradition der jemenitischen Juden (die nach der babylonischen Gefangenschaft nicht ins Land der Väter zurückkehrten) und der sephardischen Juden (die 1492 aus Spanien und Portugal verjagt wurden), der irakischen Juden (die nach der Vernichtung des alten Judenstaates im Jahr 586 v. Chr. im Land Nebukadnezars und seiner Nachfolger blieben), der persischen („bucharischen“) Juden, der seit dem Mittelalter aus Deutschland nach Osteuropa vertriebenen („aschkenasischen“) Juden, der in Äthiopien lange Zeit isolierten Gemeinde und der Samaritaner, die sich schon in der Entstehungszeit des Alten Testaments von der Religion der jüdischen Mehrheit abspalteten.

Trotz einem halben Dutzend Uraufführungen von Werken mit kultischem Hintergrund und der Präsentation der Synagogen-Gesänge aus dem Orient blieben diese Stränge des jüdischen Musikschaffens bei der „Begegnung der Diaspora mit Israel“ Nebensache. Es überwogen im großen „jüdischen Horizont“, der da aufgezeigt wurde, jene Typen neuer Musik, die sich in New York und Köln, Paris und Wien ausgeprägt haben. Highlights darin waren die erste Aufführung von Morton Feldmans nachgelassener Musik Violin and Stringquartett und Ligetis neues Violin-Konzert, dem ein ähnlicher Publikumserfolg wie dem ligetischen Klavierkonzert sicher sein dürfte. Kontrastreicher läßt sich, was unter dem Sammelbegriff „Neue Musik“ rangiert, kaum denken, zumal in der engen Nachbarschaft zum Neoexpressionismus der israelischen Komponistin Betty Olivero oder dem Sechziger-Jahre-Strukturalismus Haubenstock-Ramatis. Das Thema der „jüdischen Musik“ die es als Markenartikel sowenig gibt wie als ausgegrenzten Zusammenhang, scheint in der Luft zu liegen: die Kasseler Musiktage näherten sich ihr dieser Tage unter anderer Themenstellung.

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