: Die Moskauer Vorstadt in Riga
Ein Besuch bei russischen Altgläubigen, sowjetischen Juden und deutschen Protestanten ■ Aus Riga Franek Blohm
Jahrhundertelang war Riga die bedeutsamste Hanse- und Hafenstadt im östlichen Ostseegebiet. 1710 von den Truppen Zar Peter des I. erobert, entwickelte sich die an der Mündung der Daugava gelegene Stadt zu einem der Zentren Ostmitteleuropas und zur „wissenschaftlichen Hauptstadt des Baltikums“ (Czeslaw Milosz). Heute ist Riga eine multikulturelle Stadt mit fast einer Million Einwohnern und eines der Zentren der antisowjetischen nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen. Riga heute bedeutet nicht nur die Konfrontation mit den verwirrenden, befremdlichen, bedrückenden, faszinierenden, widersprüchlichen Facetten postsozialistischer Realität, sondern auch mit der verwickelten lettisch- russisch-deutschen Geschichte.
Kein Ort ist dafür besser geeignet als die Moskauer Vorstadt, ehemals das Proletenviertel, das sich östlich an die Altstadt anschließt. Nur wenige Touristen verirren sich dorthin, obgleich sich gerade in diesem noch heute ärmlich wirkenden Stadtteil mit seinen vielen Holzhäusern Geschichte und Gegenwart auf ungewöhnliche Weise offenbaren. Es beginnt mit dem Wahrzeichen der Moskauer Vorstadt, dem Zuckerbäcker- Hochhaus der Akademie der Wissenschaften aus der Stalin-Ära — noch immer gekrönt mit einem zackigen roten Stern — gleichsam einem Sinnbild für all das, was die Sowjetrussen den Letten oktroyierten.
Im Refugium der Altgläubigen
Wenige Straßenbahnhaltestellen von der Akademie entfernt ist ein Blick in das tiefste Rußland des 18. Jahrhunderts möglich: in der Kirche der Altgläubigen. Nur der vergoldete, separat stehende Turm mit dem Kreuz weist auf die Funktion als Kirche hin — in keinem Reiseführer ist sie erwähnt. Die eigentlichen Kirchenräume liegen gut verborgen im Inneren des profan wirkenden Gebäudes, und das mit gutem Grund: die Altgläubigen, eine konservativ-nationalrussische Abspaltung von der russisch-orthodoxen Kirche, waren im zaristischen Rußland verboten und verfolgt, lediglich an wenigen Orten wie hier am Westrand des Reiches wurden sie seit 1760 geduldet, weil der liberale Senat von Riga „durch die Finger schaute“, wie es im Lettischen (und Russischen) heißt. Der Turm durfte — Ironie der Geschichte — erst nach der Revolution 1905 gebaut werden. Heute zählt die Kirche der Altgläubigen in Lettland 50 Gemeinden mit etwa 70.000 Mitgliedern, die Tendenz ist zunehmend.
Wer eben noch vom Lärm der Straße mit den rumpelnden Straßenbahnen, den quietschenden Moskwitschs und den schnarrenden Trolleybussen benommen wurde, der weiß die meditative Stille der Kirchenräume zu schätzen. Nur einige alte bekopftuchte Frauen sitzen still in den Ecken, Weihrauch und Myrrhe-Düfte lassen die vom Dieselqualm schon abgestumpfte Nase wieder durchatmen. Und die Überraschung kommt noch: So bescheiden sich das Äußere der Kirche ausnimmt, so überwältigend ist der Glanz der 1.500 vergoldeten und versilberten Ikonen, die die großen Wände im Inneren fast vollständig bedecken.
Christentum und Sozialismus?
Die Grebenstschikow-Gemeinde in Riga gilt als weltweit bedeutendste der — priesterlosen — Altgläubigen- Gemeinden (Bespopowzy). Als geistlicher Vorsitzender der Gemeinde wird mir Herr Miroljubov vorgestellt, ein Mann von gut 40 Jahren, vollbärtig wie alle männlichen Altgläubigen; mit seiner schwarzen Kleidung und seinem in die Ferne gerichteten Blick scheint er direkt von der Leinwand aus Tarkowskis „Andrej Rubljow“ gesprungen zu sein. Er strahlt die Ruhe und Gewißheit einer jahrhundertelangen Tradition des Überlebens einer ebenso verfolgten wie elitären Gemeinschaft aus. Dabei ist Herr Miroljubov durchaus von dieser Welt: neben orthodoxer Theologie studierte er auch Ingenieurwissenschaften. Von Ökumene oder irgendeiner Art von Veränderung des geistlichen Lebens hält er jedoch nichts, umso mehr aber von der Unabhängigkeit Lettlands: „In der Zeit der Republik Lettlands ging es uns am besten.“ Und um zu demonstrieren, was Sozialismus sei, schleppt mich Herr Miroljubov rund um das stattliche Gebäude, zeigt auf den hinteren, schmuddlig-vergammelten Teil: „Diese Räume haben uns die Roten 1946 weggenommen, sehen Sie selbst, was es heißt, wenn ein Haus keinen Besitzer hat!“ Mein Kopfnicken fällt ihm offenbar zu schwach aus. „Ich habe bemerkt, daß viele Priester, sogar Bischöfe im Westen denken, daß Christentum und Sozialismus zusammengehören, und daß nur Lenin und Stalin es falsch gemacht haben. Aber wer war jetzt verantwortlich für dies da (zeigt mit großem Schwung auf die verwahrloste Fassade): Lenin? Oder Stalin? Oder wer?“ Aber nicht genug, Herr Miroljubov eilt mit mir auf den Hinterhof, in dem eine kleine Fabrik ihr lärmendes Unwesen treibt, zu seinem Entsetzen. „Stellen Sie sich das einmal in Berlin vor!“ „Na ja, in Berlin gibt es in manchen Kirchen Rockkonzerte, so laut, daß sich die Nachbarn über die Kirche beschweren“ werfe ich ein. „Das ist schon etwas anderes“, Herr Miroljubov zeigt wenig Interesse, unseren Ost-West-Dialog ins Surreale zu kippen.
Der jüdische Exodus
Neben Russen und Weißrussen siedleten sich im 19. Jahrhundert auch viele Juden in der Moskauer Vorstadt an. Als die Deutschen am 1. Juli 1940 in Riga einmarschierten, hatte die jüdische Gemeinde etwa 60.000 Mitglieder. Vier Tage nach dem Einmarsch trieben deutsche Einsatzgruppen wahllos über 300 Juden in der Großen Synagoge an der Lacplesis iela zusammen und zündeten das Gebäude an — niemand konnte entkommen. Hier in der Moskauer Vorstadt entstand später das Rigaer Ghetto, in dem zunächst die lettischen Juden zusammengepfercht wurden, und später, nach ihrer fast vollständigen Ermordung, Zehntausende von Juden aus Deutschland. Als die Wehrmacht 1944 wieder abzog, hatten weniger als 1.000 von ihnen die Verfolgung überlebt. Heute existiert nur noch eine einzige Synagoge, die in der Peitavas iela, einer egen Altstadtgasse. Dennoch leben heute wieder mehr als 20.000 Juden in der Stadt, zugezogen aus allen Teilen der Sowjetunion, aus Flucht vor dem um sich greifenden Antisemitismus und meist mit der Absicht, vom liberalen Lettland aus die Ausreise aus der Sowjetunion zu erreichen. Allein in diesem Jahr werden 5.000 von ihnen die Erlaubnis dazu bekommen, berichtet Boris Gaft, der Vorsitzende der „Lettisch-israelischen Freundschaftsgesellschaft“, die vor einem Jahr als Selbsthilfevereinigung ausreisewilliger Juden gegründet wurde. Gaft, der aus dem Donez- Gebiet in der Urkaine stammt, lobt das liberale Klima in Lettland, um im gleichen Satz auf das dramatische Anwachsen des Antisemitismus in Rußland hinzuweisen.
Antisemitismus und Antikommunismus fließen dabei zusammen, für nationalistische Gruppen wie „Pamjat“ ist die Oktoberrevolution eine „jüdische Verschwörung“ gewesen — offenbar die russische Variante, die Geschichte zu verdrängen, den eigenen Anteil an den Verbrechen, die im Namen des Marxismus-Leninismus geschahen, zu leugnen. Was will Gaft eigentlich selbst machen, als letzter der Rigaer Juden von Bord gehen? Er zögert, antwortet ausweichend, „vorerst nicht“, die Aussichten in Israel sind nicht sehr verlockend, alles ändert sich so schnell, „was gestern geschah, ist heute Geschichte“.
„Wo die Familie hingeht, geh' auch ich hin“
Ironie des Schicksals, das ausgerechnet die einzige Gruppe, die in Riga eine den Juden vergleichbare Lage hat, die der sowjetischen Deutschen ist. Wie die Juden, allerdings aus ganz anderen Gründen, blieben nur wenige Deutsche nach dem Krieg in Riga. Die Deutschen, die heute in Lettland wohnen, kommen zumeist aus den asiatischen Republiken und haben dasselbe Ziel wie die Juden: bessere Lebensbedingungen und eine schnelle Ausreise. Es gibt sogar eine deutsche lutherische Gemeinde in Riga, ihr Vorsteher, Bischof Harald Kalnins, 78, ist nominelles Oberhaupt aller deutschen Protestanten in der Sowjetunion, nach seinen Schätzungen sind das 500.000 Gläubige in etwa 500 Gemeinden (wobei es bislang nur zwei ausgebildete Theologen gibt).
Im Büro der Gemeinde in der Jesuskirche nahe der Akademie der Wissenschaften treffe ich Natalie Beitnitz, Deutschlehrerin und Gemeindehelferin, gebürtig aus Aschchabad, der Hauptstadt Turkmeniens. Mit Stolz, wie sie sagt, zeigt sie mir das Innere der renovierten Jesuskirche, „die schönste Kirche Lettlands“, jedenfalls die größte Holzkirche des Landes; der jetzige klassizistische Bau stammt aus den Jahren 1819-22. Unter der Kuppel entfaltet sich eine seltsame Akustik, „so als ob die Töne fliegen würden“, schwärmt Natalie, Ende Dreißig, geschieden, ein sechsjähriger Sohn. Ihre vielköpfige Familie, ursprünglich an der Wolga beheimatet und von dort in den 30er Jahren vertrieben, wartet in Aschchabad auf die Ausreise in das Gelobte Land, Deutschland. Will sie selbst auch gehen? „Wo die Familie hingeht, gehe auch ich hin“, lautet Natalies Antwort. Von den Deutschen in der Sowjetunion spricht sie mit einer Stimme wie über ein zum Aussterben verurteiltes Volk, mit einer Wehmut, die von unbestimmter Ferne her zu kommen scheint und einem gesprochenen Klagegesang ähnelt. „Die meisten Deutschen sind vom Typ des Homo sowjeticus infiziert, sie sind schon nicht mehr deutsch.“ „Was ist das, deutsch?“ „Denken können, zu wissen, wie man arbeitet, und ehrlich zu sein. Der Homo sowjeticus ist unehrlich. Er hat gelernt, daß alles ,Volkseigentum‘ ist, also seins. So nimmt er, was er bekommen kann.“
Deutschnational — einzige Form der nationalen Identität?
Das Befremdliche für mich: Während sich Ost- und Westdeutsche vereinigen und Europa zu dominieren beginnen, strotzend vor Exportüberschüssen und wachsendem Bruttosozialprodukt, sitze ich in einem winzigen Büroraum im Seitenflügel einer Holzkirche in Riga, den sich drei Angestellte und ein Bischof teilen, gut zur Hälfte mit Bibeln vollgestapelt, die in alle Teile der Sowjetunion verschickt werden (die einzige Einnahmequelle der protestantischen Kirche), und erfahre vom Tod deutscher Kultur und Sprache, vom Untergang des Deutschtums in der Sowjetunion, vom Ende einer mehrere Jahrhunderte währenden Geschichte. Wäre es ein fremdes Volk, unser ungeteiltes Mitleid gelte jenen, die von Stalin in alle Winde zerstreut wurden, viele von ihnen praktisch zum Tode durch Krankheit und Verhungern verurteilt, und die heute nur die Wahl zwischen Assimilation in einem asiatischen Volk (beispielsweise der mohammedanischen Turkmenen) oder Ausreise (mit vielen Jahren des Wartens) in die Bundesrepublik haben: beides einer Entwurzelung gleichkommend. Und weil diese Sowjetdeutschen so antikommunistisch daherreden, was wir mit „primitiv“ und „reaktionär“ in eins setzen, müssen wir ausgerechnet sie, die nie in Hitler-Deutschland lebten oder in der Nazi-Armee dienten, als Sinnbild des „schlechten Deutschen“ nehmen. Können sie zudem kaum Deutsch sprechen, betrachten wir sie geringschätzig als konsumgeile Barbaren, Deutsche der dritten Kategorie. Bar jeden Verständnisses dafür, daß für sie „deutschnational“ zu denken die einzig mögliche Form kultureller Identität war und ist (in einem Vielvölkerstaat mit internationalistischer Ideologie und faktischem Chauvinismus aller gegen alle), sind uns Begegnungen mit ihnen unbehaglich, denn wir wollen von diesen Fakten nichts wissen. Wenn es aber stimmt, daß von den rund zwei Millionen Sowjetdeutschen jetzt, nach dem Ende jeder Hoffnung auf eine autonome deutsche Sowjetrepublik, nahezu alle nur noch ein Ziel haben: Deutschland, dann werden wir uns wohl oder übel damit beschäftigen müssen — oder wir überlassen dies den Heimatvertriebenenverbänden und den Reps. Nur wundere sich niemand über die Folgen.
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