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Nikowo nitschewo nje snajet: Keiner weiß von nichts

Parteibonzen, Ignoranz und Schlendrian behindern wirksame Tschernobyl-Hilfe/ Die Umsiedlungen kommen nicht voran/Die Bauern haben Angst, Monster zu zeugen/Das Jahresgehalt einer Lehrerin kostet die Einfuhr eines VW-Polo/ Eine Reportage aus Bjelorußland  ■ Aus Tschernobyl W. Giebel

Der Bauer Iwan Pwaljutschenko aus dem Dorf Lushak scheint mit seinem überquellenden Bücherschrank, den feinen Gesichtszügen und dem gepflegten Bart einem Roman Dostojewskis entsprungen. Iwan hat Glück. Nicht nur, daß er zehn Kinder hat, ein schönes Steinhaus mit Stall und russischer Sauna im Nebengebäude. Er darf sich auch rühmen, der erste private Landbesitzer der Region zu sein. Der Rat der Gemeinde hat nämlich beschlossen, den sozialistischen Schlendrian in der landwirtschaftlichen Produktion durch Privatisierung den Garaus zu machen. Iwan erhielt sein Land gratis und mit Erbrecht. Niemand weiß, wieviel das Land wert ist, wieviel ein Bauer eigentlich braucht, um seine Familie zu ernähren, wie teuer die Anschaffungen sind. Statt des halben Hektars, den Iwan bisher neben seiner Arbeit in der Kolchose privat bearbeiten durfte, besitzt er jetzt riesige 27 Hektar. Die Sache hat allerdings einen Haken: Das Land ist mit einer radioaktiven Strahlung 20 Curie pro Quadratkilometer belastet. Ein Curie entspricht 37 Milliarden Becquerel. Trotzdem wird Iwan Pwaljutschenko bald einen Kredit für einen neuen Traktor und weiteres landwirtschaftliche Gerät aufnehmen und in die Hände spucken.

Seine Vorfahren lebten hier schon zur Zeit des Zaren. Und so fragt der neue Grundbesitzer gar nicht erst nach Alternativen: „Wo soll ich denn hin? Ist es anderswo besser?“ Natürlich weiß er, daß es anderswo tatsächlich besser ist. Nur: Er kann sich einfach nicht vorstellen, von hier wegzugehen. Es hat ihn auch niemand in einen Autobus gesetzt und ihm das unbelastete, fruchtbare Land im Norden Belorußlands gezeigt. Warum der Neubau neben seinem Haus leersteht? Iwan Pwaljutschenko zuckt mit den Schultern.

Enttäuschte Umsiedler kehren zurück

Die Besitzurkunde über sein neues Land erhielt Iwan von Ewgenij Barabanow, dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Kreissowjets, eine Art Bürgermeister. Barabanow empfängt, begleitet und verabschiedet Besucher und Delegationen. Heute spricht er mit einem Deutschen, der Tschernobyl-Kinder zum Ferien-Aufenthalt eingeladen hat. Man speist am reichlich mit lokalen Produkten gedeckten Tisch. Es ist kein Mann, wer nicht vier, fünf oder sechs Wodka kippt. Mit anderen Bürgermeistern aus den kontaminierten Gebieten war Barabanow vor wenigen Wochen direkt am Reaktor. Dort gebe es keine Radioaktivität mehr, sagt er, das habe man vor seinen eigenen Augen gemessen. Risse im Sarkophag? Hat er nicht gesehen. Er beschreibt die Situation so, als könne man schon morgen direkt neben dem Reaktor unbesorgt einen Kindergarten bauen. Freundlich zuprostend, lügt er den Gästen die Hucke voll, genauso wie den Einheimischen.

Bürgermeister Barabanow verschweigt die großen Probleme des Ortes. Er verschweigt, daß viele Menschen auf eigene Faust umzusiedeln versuchten. Und daß viele von ihnen inzwischen wieder zurückgekehrt sind. Er erzählt nichts von den Familien, die an ihrem neuen Ort von den Nachbarn beschimpft oder gemieden wurden, weil sie aus dem verstrahlten Gebiet kamen. Nichts davon, daß sie nur ein Zimmer für vier Personen bekamen. Nichts von dem Mädchen, das in einer überfüllten Klasse alleine an ihrem Pult saß. Kinder und Lehrer hatten Angst, sich an der Strahlung „anzustecken“. Ein verbreiteter Aberglaube, gegen den es bislang aber keine Aufklärungskampagne gibt. Mutter und Tochter kehrten nach einigen Monaten hierher zurück. Aus ganz anderen Motiven kam eine alleinstehende fremde Frau in die kontaminierten Gebiete. Ihr Mann hatte sich abgesetzt, und sie verdient hier das Doppelte.

Von mehr als 20 Familien und Gesprächspartnern, mit denen wir in Lushak und in der benachbarten, Stadt Korma sprechen, will niemand von hier weggehen. Das widerspricht zwar den Statistiken, aber es ist die Realität der Entmutigten, die vom Zar bis zu den Stalinisten für jede Initiative geschlagen oder bestraft worden sind. Angst, Aberglaube, Abhängigkeit, Mutlosigkeit, sich in das Schicksal fügen — davon scheinen die Menschen geprägt.

Barabanow berichtet über angebliche präventive Maßnahmen: Die Kinder würden in der Schule die Schuhe abwaschen und ausziehen. Aber weder gibt es Schuhwaschbecken, noch haben die Kinder Hausschuhe dabei. Selbst diese einfachste Schutzmaßnahme, Standard in jeder Uran-Klitsche, wird nur herbeigelogen. Und entgegen den Beteuerungen, saubere Lebensmittel würden als Hilfsmaßnahme für die Bevölkerung herangeschafft, sind die Geschäfte leer. Doch das Land ist fruchtbar, der eigene Garten voll. Schöne rote Äpfel werden an den Bushaltestellen billig angeboten. Niemand fragt nach Becquerels.

Kontaminierte Milch soll nicht mehr in den Handel kommen. Aber was heißt kontaminiert? In Bjelorußland beginnt die Kontamination bei 370 Becquerel pro Liter. Alles was darunter liegt, ist „saubere“ Milch und wird von Müttern, Kindern und Babies getrunken.

Kleine Parteibonzen wie Barabanow tun alles, um ihren Posten zu behalten. Veränderungen kommen in ihrem Denken nicht vor. Wie läßt sich erklären, daß 200 Menschen nach wie vor in einer der am höchsten belasteten Zonen mit teilweise über 30 Curie — weiter nach oben wurde nicht gemessen — weiterleben als wäre nichts geschehen? Hat man dieses Gebiet nicht ausgemessen? Doch, doch, versichert Barabanow, aber die Umsiedelung sei „vergessen“ worden. Barabanow ist trotz allem gut gelaunt und optimistisch, besonders jetzt, wo doch die Hilfe aus der ganzen Welt zu spüren sei.

Ganz andere Töne hört man von der Spitze des Staates Bjelorußland. Offenheit, Kooperationsbereitschaft, guter Wille. Jedenfalls auf den ersten Blick. Der Gesundheitsminster des Landes, das mindestens 70 Prozent des Fallouts abbekam, Vassili S. Kazakov, ist selbst Arzt. Er freut sich über den Besuch von Edmund Lengfelder, den Professor vom strahlenbiologischen Institut der Uni München. Lengfelder will sich einen Monat mit seinem Team in Bjelorußland umsehen, Projektvorschläge machen und, wenn sich Kooperationspartner finden, modernste Meßinstrumente im Werte von 200.000 Mark hierlassen. Kuzakov, der dritte Gesundheitsminister seit der Katastrophe im April 1986, zählt die Mängelliste auf: zu wenig Meßinstrumente, keine Medikamente, kein Geld. Aber: Alle Daten kommen seit Mai des Jahres ungeschminkt auf den Tisch, die Türen sind weit geöffnet; keine Geheimhaltung mehr, auch wenn es unbequem ist. „Wir freuen uns über jeden Besuch.“

Strahlenmessungen ohne Ende

Wunderbar. Ganz anders als die kleinen Funktionäre in den kontaminierten Städten und Dörfern. Nur: Den gleichen Sermon hat der Gesundheitsminster deutschen Journalisten schon vor drei Monaten erzählt. Was ist in diesen drei Monaten passiert? Wie viele Kinder konnten die Zone endgültig verlassen? Wie viele neue Wohnungen wurden gebaut? Da muß der Minister passen. Die einzige Verbesserung betrifft die Messungen. Die Chancen stünden gut, berichtet Kuzakow, daß Bjelorussland im Laufe des nächsten Jahres vollständig radioaktiv durchgemessen sein wird. Lengfelder hat mit vier, fünf Helfern das gesamte Bundesland Bayern in drei Monaten vermessen. Der Gesundheitsminister findet das erstaunlich. Bayern ist knapp halb so groß wie Bjelorussland. Und hier ist viereinhalb Jahre nach der Katastrophe noch immer kein Ende abzusehen.

Und die Umsiedlungen? Warum wurden keine weiteren Evakuierungen durchgeführt? Es gibt im Norden Bjelorusslands Gebiete, die noch geringer belastet sind, als das am wenigsten belastete Gebiet Bayerns. Gebiete, die durch Landflucht extrem dünn besiedelt sind und ganze Dörfer aufnehmen könnten. Die wenig belasteten Gebiete sind den Behörden bekannt, sie wurden nachprüfbar vermessen. Und diesmal nicht mit Spielzeug-Meßgeräten, mit denen die Menschen allzuoft an der Nase herumgeführt wurden. Gemessen hat ein Mann, der auch weite Regionen der Bundesrepublik untersucht hat, Dr. Rüdiger Scholz, der erfahrenste Kontaminationsritter überhaupt. Um Referenzwerte für seine bevorstehenden Messungen um Tschernobyl zu haben, hatte er im Norden Bjelorusslands erstaunlich niedrige radioaktive Werte dokumentiert.

Doch die Minister in Moskau kennen keine Radioaktivität. Bis dorthin ist die radioaktive Wolke auch nicht gekommen. Sie sei künstlich über der Stadt Gomel abgeregnet worden, behaupten nicht wenige aus der Bürgerinitiative „Kinder von Tschernobyl“. Doch Beweise gibt es dafür bisher nicht.

Die Minister in Moskau würden die Hilfsprogramme verzögern, allen voran der Gesundheits- und der Atomminister. Das behauptet jedenfalls Jevgeny F. Konoplya, Arzt, Biologe und Chemiker. Arm in Arm mit diesen Ministern marschiere nur noch die internationale Atomenergiebehörde (IAEO) in Wien — gegründet um die Atome zu schützen. Nach der Reaktorkatastrophe hätte die IAEO auf sofortiger Umsiedlung bestehen müssen. Sie habe sich einen Dreck darum gekümmert und sei deshalb, so sieht das Konoplya, „mitverantwortlich für dieses Verbrechen“ an seinem Volk.

Konoplya haut auf den Putz. Er hat den genauesten Überblick über das Leiden, die Untätigkeit, das ungeheure Ausmaß der Katastrophe. Konoplya ist Leiter und Koordinator aller Tschernobyl-Forschungsprojekte. Was in seinem 1987 gegründeten Institut für Radiologie und Radiobiologie geleistet wird, ist beeindruckend. Weltweit gibt es keine annährend vergleichbare Einrichtung. Sein Institut wird allmählich zum Mekka aller Strahlungsforscher. Internationale Kooperationsangebote häufen sich. Wer will nicht einmal nach Minsk? Ein Hauch von „Ich war dabei“.

In Minsk wird nicht unter Laborbedingungen gearbeitet, hier wird nicht theoretisch abgeschätzt, hier müssen nicht über Jahrzehnte Gesundheitsdaten rekonstruiert werden, hier läuft alles live. Wie im richtigen Leben. Belastungsketten vom Gewässern, Böden, Pflanzen, Tieren und Menschen können exakt verfolgt werden. Mit allen Varianten auf allen Stufen der radioaktiven Anreicherung. Querbeet wird die körpereigene Regulation der Tschernobyl- Opfer erforscht, ihre DNA-Reparatur, Streß als zusätzlicher Faktor, Jodmangel, Chemie-Synergismen, mentale Störungen, genetische Veränderungen, die Wirkung von freien Radikalen und Plutonium. Eine Goldgrube der Forschung. Und immer wieder soll erneut bewiesen werden, daß die Strahlung krank macht und nicht die Angst davor. Gesunde Kühe werden in die kontaminierte Zone gebracht, und schon bald sind nicht ausgereifte veränderte Blutzellen festzustellen, die zu Leukosen führen. Ursache: Das blutbildende und die Immunabwehr produzierende Knochenmark wurde durch die Strahlung geschädigt. Kühe haben keine Radiophobie, jene Krankheit, die als bequeme Dauer-Ausrede herhalten muß.

Die Wissenschaftler arbeiten aufopferungsvoll mit ihrer unzureichenden Ausrüstung im eiskalten, weil ungeheizten Labor. Aber wem wollen sie beweisen, daß die radioaktive Strahlung gefährlich ist? Den Funktionären, die alle wichtigen Kommissionen besetzen, aber niemals daran glauben werden, wenn es nicht gerade das eigene Kind erwischt?

Die Tschernobyl-Hilfe wird behindert

Wer nach Umsiedlungen ruft, wer sogar noch praktische Schritte in die Wege leiten will, bekommt Knüppel zwischen die Beine geworfen. Die Bürgervereinigung „Kinder von Tschernobyl“ wird nach wie vor nicht als „gesellschaftliche Gruppe“ anerkannt, sie darf kein Spendenkonto eröffnen, und sie kann nur unter allerschwierigsten Bedingungen Medikamente und Kindernahrung aus dem Zoll loseisen. Für die Einfuhr eines zwölf Jahre alten VW-Polo, der ihrer Arbeit dienen soll, will der Zoll in Minsk das Jahresgehalt einer Lehrerin kassieren. Zunächst hatte die sowjetische Botschaft in Bonn für den Wagen — das Geld wurde in Köln und Kassel gesammelt — eine „carte blanche“ avisiert, mit der Tschernobyl-Spenden zollfrei eingeführt werden können. Doch als es konkret wird, ist davon nicht mehr die Rede. Erst das sowjetische Generalkonsulat in Berlin korrigiert den „Fehler“. Zumindest soweit, daß die Einfuhr des Wagens überhaupt möglich wird. Zum selben Zeitpunkt rufen der bjelorussische Botschafter bei den Vereinten Nationen und der Ministerpräsident des Landes die Welt zur Hilfe auf. Für wen? Für den Zoll? Für die, die seit fünf Jahren lügen und abwiegeln? Noch ein Nachschlag für das Atomministerium?

Die „Kinder von Tschernobyl“ entsprechen sicher nicht den Idealen einer basisdemokratischen Bürgerinitiative. Alles konzentriert sich auf Gennadi Gruschewoi, der auch als Abgeordneter für die Volkfront im bjelorussischen Parlament sitzt. Aber er ist auch der einzige, der in stundenlangem persönlichen Einsatz, in zähen Verhandlungen mit den aufgeblähten Zöllnern Einmalspritzen, Kinderstiefel und Vitaminsäfte losmacht, ohne daß der Staat für sein Versagen nochmal Zoll kassiert.

Gegenüber allen anderen Gruppen, die inzwischen selbst den Namen der „Kinder von Tschernobyl“ geklaut haben, um unter diesem Label abzustauben, ist das Engagement der Gruppe unübersehbar. Und vor allem: Was über die orginal „Kinder von Tschernobyl“ gespendet wurde, kam nach allen bisherigen Erfahrungen und nach eigener Anschauung auch an die richtige Adresse. (Sebastian Pflugbeil und die Berliner „Mütter und Väter gegen atomare Bedrohung“, Tel: 030/3925756, bürgen für enge Zusammenarbeit).

Als verschiedene bjelorussische Tschernobyl-Gruppen im Sommer nach Berlin eingeladen waren, um ihre Arbeit vorzustellen, konnten allein die „Kinder von Tschernobyl“ auf konkrete Arbeit verweisen. Sie organisierten in diesem Jahr auch die Verschickung von 5.000 Kindern ins Ausland. Und sie allein konnten ihre Perspektiven formulieren, nämlich die Umsiedlung selbst in Hand zu nehmen, den Bauern konkrete Schritte vorzuschlagen. Vom Staat erwarten sie nichts — obwohl das Parlament jetzt die Umsiedlung von 100.000 Menschen beschlossen hat. Derselbe Beschluß ist vom Obersten Sowjet vor über einem Jahr schon einmal gefaßt worden — ohne Ergebnis.

Die Opfer der bislang größten Industriekatastrophe der Menschheit werden von den Funktionären immer wieder vertröstet und belogen. Spendengelder verschwinden im Atomministerium, Medikamente lösen sich in Luft auf. Funktionäre, Lehrerinnen und Ärzte setzen sich ab. Die sowjetischen Bürokraten in den kontaminierten Gebieten, in Moskau und in Bonn sind unwillig, unfähig, desinteressiert und faul. „Wir können unseren Sarg bestellen“, sagen die Bauern um Tschernobyl. Sie haben Angst, Monster zu zeugen und sie haben Angst zu sterben. Und ihre Angst ist berechtigt.

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