piwik no script img

Wo Pyramiden gen Himmel wachsen

Artistik als Sport: Ein Stück Arbeiterturnen mit Tradition in China und der UdSSR  ■ Von Torsten Haselbauer

Hattingen (taz) — Es gibt in dieser Zeit sogar noch Plätze, wo figurative Symbole der sozialistischen Bewegung eine Art Renaissance erfahren. So geschehen am Samstag in einer Turnhalle in Hattingen, wo SportakrobatInnen das einst beliebteste Mittel der Selbstdarstellung von sozialistischen Arbeiterturnern in den Rang eines Wettkampfes erhöhten: Das Erbauen von „Menschen-Pyramiden“. Zwar gehören die Tage, wo mit der sportlichen Ertüchtigung des Körpers Politik gemacht wurde, längst der Vergangenheit an, doch einige, wenn auch nur rudimentäre Elemente dieser Variante konnte die Gilde der SportakrobatInnen noch in die Gegenwart retten.

Die SportakrobatInnen der Neuzeit demonstrieren in einer höchst kraftvollen Symbiose aus Turnen und Kraftsport diverse akrobatische, tänzerische und gymnastische Übungen in zwei grundverschiedenen Varianten. Einmal in der kollektiven Form der sogenannten Kleingruppe, die letztendlich in einer Balance- und Kraftübung von zweieinhalb Minuten die Gestalt einer Pyramide, eines Trapezes oder eines Podestes annimmt.

Etwas skurril mutet denn auch die Zusammensetzung des Akrobatenteams an. Als tragende Säulen fungieren große und kräftig gebaute Kerle, und auf der Spitze der aus vier, fünf oder sechs Körpern bestehenden Figur thront wie ein Dreikäsehoch ein fliegengewichtiger Junge, der nie mehr als vierzig Kilo auf die Waage bringt. Dafür versteht er es besonders gut, mit diversen Handständen, Drehelementen und anderen waghalsigen Bewegungen das Publikum eindrucksvoll zu entzücken. Zwei lange Sekunden huldigt diese Körperkonstruktion dem Publikum, ehe das in sich geordnet zusammenbricht, was einstmals zusammengehörte.

Allerdings hat der gesellschaftliche Trend zur Pärchenbildung auch bei den SportakrobatInnen seine Spuren hinterlassen. Zunehmend seltener sind folgerichtig solche großen figurativen Ansammlungen von KunstkraftsportlerInnen im Wettkampf zu bewundern. Das Bild des sportlichen Wettkampfs der AkrobatInnen, auch in Hattingen, bestimmen statt dessen immer häufiger zwei keß gekleidete junge Frauen oder Herren, die — getrennt und mit flotter Instrumentalmusik untermalt — balletthaft über eine große Matte schweben.

Nicht mehr die Zweckmäßigkeit der Figur bestimmt das Handeln der Akteure, sondern die Optik dient hierbei als Formgeber. Und dennoch sind die Kraft-, Hebe- und Balanceteile, der eigentliche Inhalt des Sports, bei den Pärchen nicht gänzlich verschwunden. Deshalb entsprechen auch in diesem Artistenduett die handelnden Sportler dem gängigen Klischee von „groß und stark mit klein und leicht“, wie es der Artist Raimund Herberg umschreibt. Herberg und seine Partnerin Simone Metzmacher sind zwei der etwa 7.000 ArtistInnen in der Ex- BRD. Wahrlich eine kleine Anzahl von Aktiven also, die den Mut aufbringt, Sprung- mit Tanzelementen zu verbinden, und schon gar nicht vergleichbar mit der Popularität des Sports in China oder in der UdSSR.

Gerade den SportlerInnen aus diesen Ländern verdankte denn auch die Veranstaltung in Hattingen ihre Attraktivität. Ausgestattet mit zwei hauptamtlichen Trainerinnen allein für die Choreographie und zwei weiteren für die turnerischen Elemente, reisten die beiden Riegen an — und hielten, was sie versprachen. Waghalsige und ästhetische Sportakrobatik in Vollendung, Resultat eines täglich bereits in der Schule beginnenden Trainings von vier Stunden, ließ die deutsche Auswahl blaß aussehen. Es waren vor allem die russischen Akrobaten, die ihre „Menschen-Pyramiden“ förmlich in den Himmel wachsen ließen.

Wem da jetzt der Gedanke kommt, doch dergleichen schon einmal im Zirkus gesehen zu haben, liegt so falsch nicht. Sämtlichen AkrobatInnen des russischen oder chinesischen Staatszirkusses gemein ist die ehemalige aktive Sportlerlaufbahn. Nach deren Ende teilen sie das Leid ausgemusterter Wettkampfpferde. Was als Kind mit dem Training an Sicherheitsseilen in der Turnhalle unter Ausschluß der Öffentlichkeit begann, findet nicht selten seinen Abschluß unter der Zirkuskuppel auf Europatournee.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen