: ...so entsetzlich direkt!
■ Arbeitskreis „Roter Elefant“ tagte in Worpswede: „Kinder — Bücher — Medien“
„Ihr seid so entsetzlich direkt!“ stöhnt eine Bibliothekarin aus dem Osten Berlins nach einer Textanalyse des besten Jugendromans, den die BRD in Sachen Liebe und Sexualität zu bieten hat („Und plötzlich willste mehr“ von Fehrmann/Weismann). „Ich war beim ersten Durchlesen richtig erschrocken, beim zweiten Mal hab ich es dann schon besser vertragen, und jetzt finde ich das Buch richtig gut.“
Wir wissen noch viel zuwenig von der Kinder- und Jugendliteratur des 'anderen' Deutschland — diese Erkenntnis führte mehr als 60 LehrerInnen, BibliothekarInnen, BuchhändlerInnen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen am vergangenen Wochenende in Worpswede zusammen.
Der Arbeitskreis „Roter Elefant“, der schon zu DDR-Zeiten für mehr Verständigung in Sachen Kinder- und Jugendkultur zwischen den beiden deutschen Ländern eingetreten war, hatte eingeladen:In den Kinder- und Jugendbüchern der letzten zehn Jahre sollte, auf besonderen Wunsch der östlichen Gäste hin, „Konfliktbewältigung am Beispiel der Frauenrolle“ untersucht werden.
Es war schwierig, sich kennenzulernen, zu groß ist die Unkenntnis der je anderen Literatur. Denn die war jahrelang vergriffen oder sonst nicht zu kriegen. Kinder- und Jugendliteratur ist und war jedoch in beiden Ländern stets ein höchst empfindlicher Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen gewesen, für Veränderungen, für Erreichtes und für Mängel. Alle Themen finden sich darin wieder, die die Gesellschaft allgemein bewegen.
In vielen Arbeitsgruppen ließen sich Annäherungsprozesse ausmachen — und durchaus wechselseitige, z.B. wo es um die Themen Politik , Arbeit und Faschismus und deren literarische Gestaltung ging. Auch ganz aktuelle Titel wurden für diese Arbeit herangezogen, etwa die Anthologie „Wahnsinn!“ (Ravensburger Buchverlag). Darin setzen sich 21 der bedeutendsten Kinder-und JugendbuchautorInnen der DDR mit der Umbruchssituation in ihrem Land auseinander.
„Meine Güte, was eure Kinder jetzt so auszuhalten haben“, rief eine westdeutsche Teilnehmerin nach der Diskussion einer „Wahnsinns“-Geschichte. Literatur abgehoben von der Wirklichkeit? SchriftstellerInnen im Elfenbeinturm? Davon war nichts zu spüren.
Die Versammelten zerbrachen sich die Köpfe um eine mögliche Weiterführung des Verständigungsprozesses, der ihrer Ansicht nach auch den Erhalt von DDR-spezifischer Literatur bedeuten müßte. Denn da gab es vieles, was nun nicht von den Medienriesen des Westens einfach beiseite gedrückt werden sollte, vieles, das zu kennen notwendige Voraussetzung jeder Annäherung ist.
Jutta Schlott aus Schwerin, Autorin einer vielgelobten Vogeler- Biographie für Jugendliche, wünscht sich den Erhalt dieser Literatur, um das Gedächtnis an die DDR wachzuhalten, mit der sie zwar längst nicht immer einverstanden war, an der sie jedoch auch Wichtiges zu schätzen wußte. „Ich bin es gewöhnt, wegen politischer Dinge beschimpft zu werden“, sagt sie, „daran hat sich auch nach der Wende leider nichts geändert“. Ihr Beitrag in der o.g. Anthologie heißt „Klimaverschiebung“.
Die TeilnehmerInnen wollen hier weiterarbeiten, das Andere und das Gemeinsame in dem Medium Kinder- und Jugendliteratur aufspüren und für ihre eigene Arbeit und Standortbestimmung nutzbar machen. Die nächste Tagung in Neubrandenburg im Mai '91 ist schon in der Planung. Nina Schindler
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