Vor Gericht: Tragischer Tod eines Säuglings

■ Hebamme freigesprochen: Im Fläschchen war Badezusatz statt Zuckerlösung / Kindesmutter als Nebenklägerin

Vor viereinhalb Jahren war der kleine Säugling Bruno D. gestorben, gerade zwei Tage alt war er geworden. Zwei Frauen saßen sich deshalb gestern im Amtsgericht als Kontrahentinnen gegenüber. Die eine in ihrer Eigenschaft als Mutter, die andere als Hebamme. Über der Hebamme lastete der Vorwurf „fahrlässige Tötung“. Die Mutter, als Nebenklägerin anwesend, hatte sich im Vorfeld dafür eingesetzt, daß das Verfahren gegen ihre Hebamme nicht eingestellt, sondern bis zur Anklage geführt wurde.

Die Ereignisse jenes 20. Mai 1986, Brunos Todestag, im Prozeß immer wieder „Verkettung unglücklicher Umstände“ bezeichnet: Die Mutter war nach ambulanter Geburt nach Hause zurückgekehrt, hielt den kleinen Bruno schlafend im Arm. Er war ihr erstes Kind, ein Wunschkind. Sie hatte ihn bereits an die Brust angelegt, aber die Milch war noch nicht eingeschossen.

Die Hebamme kam zur Nachsorge vorbei. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 28 Jahre Berufserfahrung hinter sich und selbst drei Kinder geboren. Sie wickelte das Baby Bruno und stellte „Flüssigkeitsmangel“ fest. Die Kindsmutter, auf „gesunde Ernährung“ bedacht, plädierte dafür, dem Kind noch einmal Kamillentee anzubieten. Die Hebamme setzte sich jedoch durch. Ihr Vorschlag: Dem Kind eine Traubenzuckerlösung für Neugeborene, „Dextroneonat“, zu geben: „Das ist süß, das mögen Babies lieber.“ Der kleine Bruno trank, doch dann fing er an zu husten und zu würgen, wurde blau und ließ die Ärmchen hängen. Mit dem Notarztwagen kam er ins Krankenhaus. Dort starb er am gleichen Abend. Was er getrunken hatte, war keine Traubenzuckerlösung, sondern ein Badezusatz für Babies.

Durch welche klinikinternen Verwechslungen dieser Badezusatz in die Flasche für die Zuckerlösung mit der Aufschrift „Dextroneonat“ geraten war, konnte auch gestern vor Gericht nicht geklärt werden. Fest stand nur: Die Hebamme hatte das Fläschchen mit der Aufschrift „Dextroneonat“ an ihrem Arbeitsplatz, der Kurfürstenklinik, aus einem Schrank genommen, in dem Dutzende dieser Baby-Nahrungs- Fläschchen aufbewahrt werden. Sie trug das Fläschchen bei sich, um für die Nachsorge vorbereitet zu sein.

Den Vorwurf der „fahrlässigen Tötung“ gründete Staatsanwältin Charlotte Neubert auf das Argument, die Hebamme habe ihre „Sorgfaltspflicht“ verletzt. Sie habe wissen müssen, daß Fläschchen mit „Dextroneonat“ immer vakuumverpackt seien. Dies sei daran zu erkennen, daß es beim Öffnen des Drehverschlusses ein „Knackgeräusch“ gebe. Die Hebamme hätte also aufhorchen müssen, weil das Fläschchen für Bruno eben nicht „knack“ gemacht habe: „Man muß prüfen, was drin ist.“ Staatsanwältin Neubert forderte eine Haftstrafe von sechs Monaten, die auf Bewährung auszusetzen sei.

Der Verteidiger der Hebamme, Reinhold Schlothauer, plädierte auf Freispruch. Seine Mandantin habe ihre Sorgfaltspflicht nicht verletzt. Denn sie habe nicht wissen können, daß „Dextroneonat“ vakuumverschlossen sei. Schließlich habe der Hersteller die vakuumverschlossenen Fläschchen damals nicht mit einem entsprechenden Hinweis auf dem Deckel versehen gehabt — im Gegensatz zu zahlreichen anderen Anbietern von Babynahrung.

Das Gericht folgte dieser Argumentation und erkannte ebenfalls auf „Freispruch“.

Die beiden Frauen, die Hebamme und die Mutter, sind bis heute von dem Tod des kleine Bruno gezeichnet. Die Hebamme war drei Jahre lang überhaupt nicht arbeitsfähig. Die Mutter ist trotz ihres starken Kinderwunsches bisher nicht wieder schwanger geworden. Staatsanwältin Neubert hatte in ihrem Plädoyer die Frage gestellt, „ob das Strafrecht hier das richtige Mittel ist.“ In Richtung der Eltern Brunos hatte sie zu bedenken gegeben: „Die Erfahrung zeigt, daß der Schmerz auch nach einem Urteil nicht abnimmmt. Es tritt keine Erleichterung ein.“ Barbara Debus