Menschenrecht und Lebensmittelmarken

■ Die KSZE-Botschaft hat die sowjetische Bevölkerung nicht erreicht/ Ein Gespräch mit Rewolt Iwanowitsch Pimenow INTERVIEW

Rewolt Iwanowitsch Pimenow wurde 1931 am Don geboren. Pimenows Eltern zogen in die fernöstliche Stadt Magadan, wo er als Zwölfjähriger sehen mußte, wie im Hafen Gefangene wie Fische in grossen Netzen mit Kränen verladen wurden. Pimenow studierte Mathematik und wurde 1949 zum ersten Mal in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, weil er aus dem Komsomol austreten wollte. Nach seinem öffentlichen Protest gegen den Einmarsch in Ungarn wurde er 1957 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Heute ist Pimenow Deputierter des russischen Volkskongresses und Mitglied ihrer Verfassungskommission.

taz: 1976, knapp ein Jahr nach der ersten Helsinki-Konferenz, verbrachte ich ein Jahr in der Leningrader Universität. Einige wenige sowjetische Mitbewohner, die sich damals im kleinsten Kreis äußern konnten, setzten große Hoffnungen auf die innenpolitische Wirkung von Helsinki. Waren sie naiv?

Pimenow: Tatsächlich wirkten sich die internationalen Konferenzen 1975 und sogar noch 1984 höchstens zu ein bis zwei Prozent positiv für die Menschenrechtsbewegung aus. Ansonsten blieb alles unverändert: Die Machthaber verfolgten die Verfechter der Menschenrechte wie eh und je, ja wenn ein Angeklagter in einem solchen Prozeß auf die entsprechenden Abschlußdokumente verwies, konnte dies für ihn zur Strafverschärfung führen. Die aktive Hilfe für die politischen Gefangenen in unserem Lande war bis Anfang der 70er Jahre „hausgemacht“. Es wurden im Freundeskreise Geldsummen gesammelt, von denen der Löwenanteil der Bestechung der Lagerleitungen diente. Dies wiederum ermöglichte es dann, die vom Rest des Geldes gekauften Milchprodukte, sauren Gurken usw. den Häftlingen zukommen zu lassen. Psychologisch war es natürlich eine große Hilfe zu wissen, daß man sich irgendwo dort „draußen“ um dich sorgt. Als sich die Politik in den Jahren 1984/85 allmählich änderte, bekamen die Helsinki-Verträge eine ganz andere Bedeutung für uns. Um moralischen und finanziellen Kredit aus dem Ausland zu bekommen, suchten Gorbatschow und seine Umgebung damals verzweifelt der Welt zu beweisen, daß nicht das gesamte ZK aus Kannibalen bestehe, sondern friedlich mit dem Olivenzweig winke. Damals begann man hier auch die Menschenrechtsfrage ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Den wichtigsten Fortschritt in dieser Hinsicht brachte aber ohne Zweifel das Telefongespräch Gorbatschows mit Sacharow anläßlich dessen Befreiung. Sacharow forderte sofort ganz ultimativ die Befreiung aller politischen Gefangenen.

Und wie sieht es damit heute aus?

Man kann sagen, daß es bei uns politische Gefangene praktisch nicht mehr gibt. Aber der Durchschnittsbürger ist von einem Bewußtsein seiner eigenen Menschenrechte weit entfernt, er hält diese ganzen „Konferenzen“ und „Abkommen“ für reines Wortgeklingel.

Aber weshalb nannten sich Jurij Orlows Gruppe und andere Initiativen „Helsinki-Gruppen“?

Wo immer der Staat die Helsinki-Dokumente bei Privatpersonen fand, wurden sie beschlagnahmt. Aber aus der Presse ging immerhin hervor, was für eine Art von Dokument die UdSSR unterzeichnet hatte. Dies benutzten Orlow und andere als „taktischen Aufhänger“, um zu zeigen, daß ihre Absichten nicht ganz dem Einfluß fremder Mächte zuzuschreiben seien. All das hatte eine Strohhalmfunktion. Tatsächlich ging man dann auch nicht gegen diese Gruppen „als solche“ vor, sondern zerschlug sie, indem man die einzelnen Mitglieder aus vorgeschobenen Gründen verhaftete: Der eine war an der falschen Stelle über die Straße gegangen, dem anderen schob man heimlich Rauschgift in die Wohnung.

Die „Helsinki-Gruppen“ sind zumindest in Rußland fast ausgestorben. Dafür gibt es jetzt eine sowjetische „Gesellschaft für Menschenrechte“.

Das ist eine mehr oder weniger „fiktive“ Angelegenheit, ein Versuch, die Öffentlichkeit zu betrügen. Unter heutigen Bedingungen ist der Kampf um Menschenrechte bei uns gleichbedeutend mit dem offenen politischen Kampf für das demokratische Bewußtsein der Bürger und gegen Korruption. Worauf die Bevölkerung besteht, das wird man ihr heute auch gewähren.

Bis heute gibt es in der Sowjetunion keine Freizügigkeit. Als Sowjetbürgerin könnte ich also nicht einfach in die Stadt ziehen, wo mein Liebster wohnt oder wo sich mir die besten Berufschancen bieten.

In der Rechtskommission beim obersten Sowjet der RSFSR bereiten wir ein entsprechendes Gesetz vor. Da wir es aber jetzt für ratsam halten, bald Lebensmittelmarken auszugeben, wird es wohl kaum verabschiedet werden. Denn wenn sich nicht mehr genau der Wohnort bestimmen ließe, an dem der Mensch vom Recht auf Lebensmittel Gebrauch machen kann, würde die ohnehin gewaltige Spekulation und Schieberei ins Grenzenlose wachsen. Frei umherziehen kann man nur dort, wo alle satt werden. Interview: Barbara Kerneck