Regierende SPD unter Zugzwang

■ Mit ihrer harten Linie will sich die SPD offenbar dem konservativen Wählerkreis empfehlen

Eines ist klar: Berlin hat seit vorgestern sein Wahlkampfthema gefunden. Nach jahrelanger Ruhe tobt, knapp drei Wochen vor der ersten gesamtberliner Wahl seit 1946, der Häuserkampf. Gestern mittag waren die am Montag in der Ostberliner Pfarrstraße geräumten Häuser, die die ganze Aktion ausgelöst hatten, bereits wieder besetzt und im Zuge der Räumung der Mainzerstraße ein zweites Mal geräumt worden. Das bestätigte ein Polizeisprecher auf Nachfrage der taz. Der Strafantrag war von der Wohnungsbaugesellschaft i.G. in Lichtenberg erstattet worden, die die beiden Häuser verwaltet. Er wurde von einem Justitiar der Wohnungsbaugesellschaft damit begründet, daß eine anderweitige Nutzung geplant sei.

Nach Auffassung eines Westberliner Juristen ist der Strafantrag für die Pfarrstraße 112 jedoch rechtswidrig, weil damit gegen das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen verstoßen worden sei. Über die weitere Nutzung des Hauses könne nur die Eigentümerin des Hauses entscheiden, die in den achtziger Jahren enteignet worden war. Die Frau hat sich nach Angaben der Besetzer schriftlich gegen die Räumung ausgesprochen.

Damit kommt in einen Wahlkampf, der bisher eher lau verlaufen ist, seit gestern heftige Bewegung. Zwar hat die CDU bisher versucht, gegen rot-grün mobil zu machen, das Thema Hausbesetzung aber stand bisher nicht auf der Tagesordnung und wurde auch von der Opposition nicht plakatiert. In der verworrenen Nachrichtenlage gab es gestern zumindest in einem Punkt keinen Zweifel: daß den politisch Verantwortlichen die ganz Sache völlig über den Kopf gewachsen ist. Die regierende SPD hatte auf den Strafantrag der Hausbesitzer — den Nachfolgegesellschaften der Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) — offenbar bereits vor dem Wochenende beschlossen, die drei Häuser räumen zu lassen. Aufgrund eines Magistratsbeschlusses vom 24. Juli dieses Jahres sollte auch im Ostteil der Stadt die sogenannte „Berliner Linie“ angewendet werden, die zu Zeiten des Westberliner Häuserkampfes Anfang der achtziger Jahre entwickelt wurde. Das heißt, weitere Neubesetzungen sollten nicht mehr hingenommen, die Häuser im Zweifelsfalle sofort geräumt werden.

Praktisch hatte der Magistrat aber bis zum 3. Oktober keinerlei Handlungsspielraum, die Polizei einzusetzen, da die Polizeihoheit für Ost-Berlin weiterhin dem DDR-Innenminister Diestel unterstand. Der wiederum verspürte wenig Neigung, aktiv zu werden. Was den Senat dazu veranlaßt hat, die drei Häuser am Montag räumen zu lassen, ist weiterhin unklar. Klar ist nur, daß die Aktion bereits Ende letzter Woche in Vorbereitung war.

Mittlerweile ist der Brief eines Ostberliner Bezirkstadtrates an Senat und Magistrat bekanntgeworden, aus dem eindeutig hervorgeht, daß es zumindest Anzeichen für eine bevorstehende Räumung gegeben hat. In dem Schreiben zweifelt der Stadtrat nicht an der Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Räumung, gibt aber zu bedenken, daß durch die Ereignisse um die Hooligans in Berlin eine erhöhte Gewaltbereitschaft bestehe. „Zu diesem Zeitpunkt ein Haus zu räumen, bedeutet, mit dem Feuer zu spielen“, hieß es in dem Schreiben, das der Verfasser schon am Sonntag beim Polizeipräsidium abgegeben hat.

Die politisch Verantwortlichen zeigten sich davon unbeeindruckt und ließen in Abwesenheit der Bürgermeister — sie weilten gerade in Moskau — die Häuser räumen. Wie sehr die Räumung zu Unruhen führen würde, habe man angeblich nicht geahnt, so der verantwortliche Innensenator Erich Pätzold am Dienstag vor der Presse. Man habe Anschlußaktionen erwartet, so Pätzold weiter, aber nicht in diesem Ausmaß.

Durch die unerwartet hohe Gewalttätigkeit in der Mainzer Straße vorgestern nachmittag fühlte sich die Senatsspitze offensichtlich so sehr unter Zugzwang, durchzugreifen, daß gestern sämtliche Häuser in der Straße wegen der von ihnen ausgehenden Straftaten geräumt werden „mußten“. Die Angst der SPD, im Wahlkampf vor dem rechten Wählerrand als schwach zu erscheinen, ließ sie den Forderungen der CDU nachkommen, die ihren festen Willen kundgetan hatte, alle Häuser zu räumen.

Ob die politischen Folgen verantwortet werden können, bleibt abzuwarten. Abzuwarten bleibt auch, ob die Wähler das harte Durchgreifen überhaupt honorieren werden — und: ob die ohnehin angeschlagene rot-grüne Koalition diese Krise überstehen wird. Der kleinere Koalitionspartner war von den Plänen der SPD-Spitze überhaupt nicht informiert worden, und die von der AL gestellte stellvertretende Senatssprecherin Ingvild Kiele, die während der Abwesenheit Mompers für das Presseamt zuständig ist, wußte von nichts — konnte noch nicht einmal gegenüber der Presse Auskunft geben. Bei Redaktionsschluß berieten die Gremien der AL noch, ob sie aus der Koalition aussteigen sollten. Sollte sie sich dazu entschließen, ist der Weg endgültig frei für eine große Koalition. Das innenpolitische Klima ist seit gestern dafür vorbereitet, und die SPD ist eben aus wahlkampftaktischen Gründen jetzt dazu „verpflichtet“, weiterhin hart durchzugreifen — ganz im Sinne der CDU. Kordula Doerfler