: »Alpen rot - morgen tot«
Es scheint ein Stück Heimatfilmromantik und Bühnennaturalismus zu werden, denn das Szenenbild ist das detailgetreue Innere einer Sennhütte. Kuhglocken erfreuen das Ohr der/des in Reisebeschreibungen bewanderten Zuschauers/in beim Eintreten. Doch die Prospekte, die Gebirgssilhouette als abstraktes Zerrbild wiedergebend, über und neben der Bühne, brechen den Eindruck.
Was in den ersten Bildern zwischen dem strenggläubigen Benedikt (Werner Koller), Mani, dem Depp (Dominik Bender) und Fridolin (Johannes Herrschann), dem Weltgewandten abläuft, sind die alltäglichen Verrichtungen, die notwendig das Dasein auf der Alp ausmachen. Aufflackernde und urwüchsig ausgetragene Konflikte haben ihren Grund in gegenseitigen Abhängigkeiten.
Ständiger Begleiter der drei ist ER, der sowohl im rollenden Donner der Lawinen, den Blitzen über den Gipfeln und im Schweigen der Nacht als unwägbare und nicht zu benennende Bedrohung zu leben scheint. Die wuchernden Phantasien der Männer werden konkret in der Erotik von Frauen, die allabendlich in den Gesprächen oder vor dem geistigen Auge auferstehen: dumpf unterdrückt beim Gedanken an die Ehefrau oder Freundin fern im Tal - um so wilder ausufernd bei der Imagination gesichtsloser Objekte männlicher Triebe. So wird aus der fast zufällig entstandenen Heugabel-Gestalt, der mit Federbett und Mantel drapierte Gegenstand sexuellen Exzesses und das Befriedigungsobjekt unerfüllter Sehnsüchte. Bald erleben die Senner die Auferstehung des Phantoms. Es wird mit Leben begabt und Maria genannt (Elisabeth Zündel); beginnt das Leben der drei zu beherrschen, gedeiht ausgezeichnet - zum Monster, treibt endlich zum fluchtartigen Aufbruch und frißt folgerichtig den letzten, der ihr mit Haut und Haar verfallen ist.
Mit der Dramatisierung des Textes (nach einer Sage aus dem Schweizer Uri) von Hansjörg Schneider ist dem Ensemble unter der Regie von Werner Gerber nicht nur eine überzeugende Darstellung des Entstehens und der Genesis von übermenschlichen Wesen aus der Phantasie heraus gelungen. Das in der Berliner Theaterszene fast schon mutig zu nennende Bekenntnis zur naturalistisch-realistischen Darstellungsweise erlaubt eine differenzierte Sicht auf das Heraustreiben überraschender Verhaltensmuster von Menschen in außerordentlichen Situationen. So auch erscheint einerseits das Abheben von sozialer Bindung und natürlichen Existenzbedingungen als höchst brüchig (Fridolin). Andererseits können wieder Gedanken an die Lernfähigkeit im Umgang mit sich und der Umwelt aufkommen (Mani).
Zudem - die Symbolkraft des Dargestelleten hätte einer verdeutlichenden Stilisierung auch gar nicht bedurft. Karsten Wiegand
»Sennentuntschi«, Theater zum westlichen Stadthirten, 20.00h (Foto: D. Bender)
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