: Kommt nach der Räumung der Abriß?
■ Die Häuser in der Mainzer Straße werden systematisch zerstört/Mobiliar wird aus den Fenstern geworfen/Schwere Vorwürfe der Besetzer gegen die Polizei: Gummigeschosse eingesetzt, Festgenommene verprügelt und die Treppen heruntergeschubst
Friedrichshain/Kreuzberg. Trotz der Ankündigung von Innensenator Erich Pätzold und Bürgermeister Walter Momper (beide SPD), daß die 13 geräumten Häuser saniert werden und danach Wohnungssuchenden zur Verfügung gestellt werden sollen, haben Bauarbeiter und Polizei damit angefangen, mit Äxten Türen einzuschlagen, Klos und Öfen zu zertrümmern sowie Wasser- und elektrische Leitungen kaputtzumachen. Auf einer gestrigen Pressekonferenz im Kreuzberger Mehringhof befürchteten ehemalige Besetzer, daß alle Häuser abgerissen werden sollen. Sie beschwerten sich auch darüber, daß im Gegensatz zu dem Versprechen der Polizei, sie ihre Sachen nicht wiederbekommen würden, sondern Möbel, Hifi- und Haushaltsgeräte, Kleidungsstücke und Bücher »einfach aus den Fenstern geworfen werden«. Offenbar die einzigen, die gestern ihr Eigentum abholen konnten, waren die Mitarbeiter des Antiquariats.
Bei der Räumung am vergangenen Montag sollen Sondereinsatzkommandos der Polizei auf den Dächern mit Gummigeschoßen geballert haben. Von den Dächern soll mit der Distanzwaffe auch gezielt in die Fenster des besetzten Hauses in der benachbarten Kreutziger Straße 23 geschossen worden sein, berichte der Ermittlungsausschuß (Tel: 6922222). In den Häusern und später auf den Revieren hätten die Beamten Festgenommene verprügelt, mit Knüppeln geschlagen und Treppen heruntergeschubst.
Die meisten Verletzten habe es in der Polizeiwache am Augusta-Platz in Steglitz gegeben haben. Frauen sollen unter anderem von hinten an den Busen gefaßt worden sein. 15 bis 20 Hausbesetzer seien schwer verletzt worden. Es habe Nasenbeinbrüche, einen Milzriß, Rippenbrüche und eine Leber-Gallen-Stauchung gegeben. Eine abgeschossene Gaspatrone habe einem Besetzer den Kiefer gebrochen.
Die Ex-Besetzer der Mainzer Straße wollen Strafanzeige gegen »alle politisch Verantwortlichen«, insbesondere Pätzold und Momper stellen. Sie fordern Schadensersatz und Wiedergutmachung. Sie betonten, daß für die zwei zuerst geräumten Häuser in der Pfarrstraße von den Eigentümern keine Räumungsanträge vorgelegen hätten. Auch seien sie niemals aufgefordert worden, ihre 13 Häuser zu verlassen.
417 Festnahmen
Nach Angaben von Innensenatssprecher Thronicker wurden bei der Straßenschlacht und Räumung der Mainzerstraße am Mittwoch morgen insgesamt 417 Personen festgenommen. 361 Festnahmen — 250 Frauen und 111 Männer — seien wegen des Verdachts eine Straftat begangen zu haben erfolgt. Davon werde gegen 114 Personen wegen Landfriedensbruchs ermittelt, gegen 21 wegen schweren Landfriedenbruchs und gegen 114 wegen Hausfriedensbruchs und anderer Delikte. 329 Personen seien entlassen worden. Acht Personen sollten dem Haftrichter vorgeführt werden. Demgegenüber sprach der polizeiliche Lagedienst gestern abend von 11 Vorführungen beim Haftrichter. Ferner wurden nach Angaben des Innensenatssprechers 56 Menschen nach dem Polizeigesetz ASOG abgeführt und erst am Donnerstag morgen gegen 2 Uhr entlassen. Thronicker führte weiter aus, daß von den Festgenommen insgesamt 154 Personen ihren Wohnsitz in West-Berlin hätten, 78 in anderen Altbundesländern und 52 in Ost-Berlin, 11 seien ohne festen Wohnsitz.
Bezirksamt Mitte besetzt
Rund 30 Vertreter aus besetzten Häusern der Stadt starteten gestern eine Aktion im Bezirksamt Mitte. Auf Transparenten protestierten sie gegen die Eskalation der Gewalt durch Senat und Polizei in der Auseinandersetzung um besetzte Häuser. »Dialog statt Bürgerkrieg« hieß es auf einem der Spruchbänder. Nachdem die Protestierenden der Aufforderung, die Plakate zu entfernen, nachkamen, erklärte sich der Bezirksrat für Soziales, Rainer Roepke (Demokratie Jetzt) bereit, in einen Dialog zu treten: »Wir sehen diese Aktion nicht als Besetzung an.« Die Besetzer äußerten nochmals ihre Anliegen: »Keine weiteren Räumungen« und »Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem Ziel einer vertraglichen Lösung für alle besetzten Häuser«.
Bei dem Gepräch, das Roepke mit den Besetzern führte, waren sich beide Seiten einig, daß jegliche Aktionen gewaltfrei vonstatten gehen müssen. Es wurde der Vorschlag unterbreitet, bei dem zur Zeit an der HdK laufenden »Karl-Hofer-Symposium« eine Forum über die Probleme Wohnungsnot und Hausbesetzungen durchzuführen, zu dem neben Momper, Schwierzina und Pätzold auch Bundespräsident Richard von Weizsäcker eingeladen werden soll. Als Roepke nach über einer Stunde Dialog den Saal verließ, rief er den Besetzern zu: »Wir müssen solidarisch sein!« diak/plu/ok
siehe auch Seite 22 und 28
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