piwik no script img

Im luftleeren Raum gedacht

■ Ethik und Gesellschaftskritik bei Michael Walzer

Das Büchlein paßt in die konservative Wende. Es enthält nur eine Aussage: Ethik und Gesellschaftskritik sind nur immanent möglich, durch Interpretation des Vorgegebenen. Diese These wird im ersten Kapitel für die Ethik durchgeführt, im zweiten Kapitel für die Gesellschaftskritik, und das letzte, dritte Kapitel soll das Behauptete am alttestamentlichen Propheten Amos bestätigen.

Das erste Kapitel unterscheidet in der Moralphilosophie „den Pfad der Entdeckung, den Pfad der Erfindung und den Pfad der Interpretation“ (S.11). Was Walzer mit dem „Pfad der Erfindung“ meint, wird nicht recht deutlich, und es ist auch schwer, sich unter einer erfundenen Ethik etwas vorzustellen, auch wenn es ein (von Walzer nicht genanntes) vorzügliches neueres Buch unter diesem Titel gibt: J. L. Mackie, Ethics — Inventing Right and Wrong, 1977. Für Walzer sind die eigentlichen Kontrahenten Entdeckung und Interpretation. Als die reinste Form einer Ethik der Entdeckung sieht Walzer die göttliche Offenbarung an (zum Beispiel auf dem Sinai). Aber sonst treten Ethiken mit einem solchen Anspruch nur innerhalb der Philosophie auf, und dies geschieht, meint Walzer, indem der Philosoph sich aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er steht, herauskatapultiert — in eine Position der „Vernunft“ oder, wie es im Titel von Thomas Nagels Buch heißt, an dem sich Walzer besonders festkrallt, an einen Ausblick von nirgendwoher (The View From Nowhere, 1986).

Sind die Alternativen erst einmal so gestellt, dann fällt es leicht zu sagen, herauskatapultieren könne sich niemand und wir stünden doch bereits immer an einem „irgendwie wertvollen Ort“ (26). Moralphilosophie müsse verstanden werden „als Reflexion über das Vertraute“ (26). Wir in Deutschland kennen natürlich seit Hegel diese Reaktion auf die Aufklärung nur zu gut. Die Sitten, das Sittliche! Dem amerikanischen Autor stehen diese schönen Wörter nicht zur Verfügung.

Man fragt sich: Sollen wir wirklich in der Lage sein, die heute strittigen ethischen Fragen durch Rekurs auf Vorgegebenes zu beantworten? Haben wir Traditionen, die wir nur zu interpretieren hätten, um Fragen zu klären, wie — um nur einige Beispiele zu nennen — das Abtreibungsproblem, die genetischen Probleme, die Behandlung von Tieren, das Problem von Krieg und Frieden? Walzer geht weder auf diese noch auf andere konkrete ethische Probleme ein. Kann man ein Thema wie das von ihm angesprochene überhaupt im luftleeren Raum erörtern?

Ist es nicht auch unangemessen, die aufklärerische Position als eine solche zu beschreiben, die sich herauskatapultiere? Mit dem Vernunftstandpunkt, dem Ausblick von nirgendwoher, und das heißt von überallher, pflegt ein Standpunkt gemeint zu sein, der gerade innerhalb der bestehenden Verhältnisse bleibt, aber in diesen eine unparteiliche Position einnimmt. Das aber ist immer auch schon wenigstens ein Moment der überlieferten moralischen Traditionen gewesen. Ist nicht also Walzers Gegenüberstellung von Interpretation und Entdeckung eine künstliche und tendenziöse? Und Walzer bleibt auch die Antwort auf die drängende Frage schuldig, woher wir denn bei der Interpretation des Gegebenen die Kriterien für die richtige Interpretation nehmen sollen.

Das zweite Kapitel konstruiert ähnliche holzschnittartig dubiose Kontraste. Zuerst sagt Walzer einleuchtend, daß jede Kultur — ich weiß nicht, ob jede, aber vielleicht die für uns relevanten — ein Selbstverständnis hat, das erweiterungsfähig ist und gegen das herrschende Selbstkonzept gewendet werden kann, so die Idee der Gleichheit gegen diejenige des klassischen Bürgertums. Und so ergibt sich eine immanente Gesellschaftskritik. Von dieser soll sich nun eine andere unterscheiden, die außerhalb der bestehenden Gesellschaft steht.

Als Kronzeugen sollen Marx und Sartre herhalten. Zu Marx sagt Walzer: „In gewissem Sinne ist es somit falsch, Marxisten als Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft zu bezeichnen, denn das Wesen ihrer Politik liegt nicht darin, die Bourgeoisie zu kritisieren, sondern sie umzustürzen“ (69). Erstens ist das „nicht — sondern“ natürlich falsch: Die Marxisten wollen die bürgerliche Gesellschaft umstürzen, weil sie sie kritisieren. Zweitens: Gerade Marx ist ein hervorragendes Beispiel für das, was Walzer mit immanenter Kritik meint, indem er die bürgerlichen Prinzipien der Universalität und Gleichheit radikalisierte (vgl. sein Die Judenfrage). Der Unterschied, den Walzer im Auge hat, ist in Wirklichkeit der zwischen schwacher, reformistischer und starker, revolutionärer Kritik. Jedoch sind beide „immanent“. Indem Walzer den Begriff der starken Kritik fälschlicherweise mit dem der nichtimmanenten Kritik verbindet, diskreditiert er die Möglichkeit einer starken Kritik, die gewiß wirklich schwierig ist, aber nicht aus diesen Gründen. Das ist die Methode reaktionärer Rhetorik.

Im dritten Kapitel stellt Walzer die Gesellschaftskritik des Propheten Amos dar und konstrastiert sie mit der des Jonas. Jonas predigte in Ninive und mußte daher auf universelle Gesichtspunkte zurückgreifen (wie bedauernswert!), Amos hingegen in Israel, und dies konnte er daher tun „im Namen von Werten [...], die in dieser selben Gesellschaft anerkannt und geteilt“ wurden (103). „Es ist also“, so schließt unser Autor, „ein Irrtum, die Propheten für ihre universalistische Botschaft zu preisen; denn das Bewundernswerte an ihnen ist ihr partikularistischer Zank und Streit“ (107). Walzer mag recht haben, daß die Kritik der Propheten in der Hauptsache auf das Partikuläre des bisherigen jüdischen Glaubens rekurrierte. Aber erstens stellt sich die Frage, ob die Form, die die jüdischen Glaubensgehalte durch die Propheten erhielten, sie nicht gerade universalisierbar gemacht hat, und zweitens: Was, wenn nicht das, wäre dann noch so „bewundernswert“ an ihnen? Woher nimmt Walzer sein Kriterium für das, was bewundernswert ist? Warum interessieren ihn die jüdischen Propheten überhaupt, und warum sollen sie uns interessieren? Inwiefern stellen sie paradigmatische Positionen für unsere Gesellschaftskritik dar?

Die letzte Frage verweist natürlich auf die weitere: Wie müßte Gesellschaftskritik heute aussehen? Seit den Umbrüchen in der Sowjetunion und den Umwälzungen in Osteuropa ist diese Frage, zu der Walzer überhaupt nichts sagt, besonders brennend. Natürlich verweist diese Frage auf die weitere: Wie müßte Gesellschaftsveränderung aussehen? Aber die eben scheint es für Walzer überhaupt nicht zu geben (oder nicht geben zu sollen). Es gibt nur noch Kritik, und die hat immanent zu bleiben. Die Gesellschaft ist nicht zu transzendieren.

Walzers Buch will eine Gesellschaftskritik, die nicht immanent und nicht partikularistisch ist, verwerfen, aber seine Argumente wirken mehr rhetorisch als relevant. Das Buch, 1987 in den USA erschienen, paßt sehr gut in den heutigen ideologischen Trend.

Schließlich kann ich mir auch als Jude ein Wort nicht verkneifen. Der Universalismus in der Ethik gehörte zum Kostbarsten des modernen liberalen Judentums, und wir liberalen Juden meinen auch, daß er die wahre jüdische Tradition vertritt, für uns war er der einzige Stolz. Aber seit sich in den letzten Jahrzehnten in Israel der Partikularismus gegen den Universalismus immer mehr durchgesetzt hat, hat diese Tendenz auch stark auf das amerikanische Judentum übergegriffen. Das vorliegende Buch, das keine Fragezeichen enthält und schon gar keine Fragen, repräsentiert diese Tendenz. Ernst Tugendhat

Michael Walzer: Kritik und Gemeinsinn. Aus dem Amerikanischen und mit einem Nachwort von Otto Kallscheuer. Rotbuch Verlag, 144 S., 26 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen