: Zeitschriften gelesen von
■ Michael Braun
M I C H A E L B R A U N Als sei mit dem Erreichen eines neuen Jahrzehnts auch eine neue literarische Zeitrechnung angebrochen, brüten die Auguren und Orakel in den Feuilletons die literarischen „Tendenzen“ der neunziger Jahre aus. Der postmoderne Schnee von gestern ist schon wieder vergessen, man sucht nach griffigen Vokabeln für die Kultur der Zukunft. Auch in den Nischen und Winkeln des Kulturbetriebs, wo kleine und kleinste Literaturzeitschriften ihr Dasein fristen, hebt ein kultur-futurologisches Raunen an, ein Prognostizieren und Schwadronieren, das einem Reich- Ranicki zur Ehre gereichte.
Die Nomadologie der 90er: AUF, UND, DAVON
Auf, Und, Davon: Diese Parole des Aufbruchs und der Flucht trägt beispielsweise eine Zeitschrift aus Graz im Titel, deren Herausgeber eine „neue nomadisierende Sensibilität“ in den neunziger Jahren heraufziehen sehen. Der Philosoph und Handke-Exeget Peter Strasser räsoniert in den ersten beiden Heften auf hohem Abstraktionsniveau über „die Nomadologie der Neunziger“ und zitiert von Gottfried Wilhelm Leibniz bis Hans Peter Duerr allerhand, um dem neuen Reizwort vom „urbanen Nomadentum“ theoretische Dignität zu verschaffen. Strasser plädiert für eine „Re-Installierung jener Neugierde“ auf Technik, Wissenschaft und Religion, die einem von der traditionellen Ideologiekritik ausgetrieben worden sei. Unklar bleibt, warum hier so viel terminologischer Aufwand getrieben wird und gegen welche falschen Aufklärer sich Strasser eigentich wendet. Der Verdacht liegt nahe, daß einmal mehr das alte Lied vom „heimatlosen Intellektuellen“ intoniert werden soll, der nach dem Verblassen des Phantoms „Postmoderne“ nach einem neuen Zauberwort sucht.
Passage zwischen den Welten: DER SIMURGH
Wo Strasser das „ziellose Nomadentum des Geistes“ nur beschwört, vermittelt die kleine esoterische Zeitschrift 'Der Simurgh‘ einen Eindruck davon, worin dieses intellektuelle Nomadisieren bestehen könnte. 'Der Simurgh‘ präsentiert sich als eine Zeitschrift für intellektuelle Abenteurer, die sich bevorzugt im Grenzbereich von Literatur, Philosophie und Phantastik aufhalten. Seine Absicht umreißt 'Simurgh‘- Herausgeber Kurt Wiessner mit einem Zitat des französischen Philosophen Michel Serres: „Das ist auch mein Traum. Eine Passage zwischen den Geisteswissenschaften (und ich denke dabei an antiquierte Wissenschaften wie die Latinistik und die Theologie) und den entwickelsten Wissenschaften wie etwa der Physik und der Mathematik zu finden.“ Die interdisziplinären Denk-Versuche im 'Simurgh‘ sind von hohem Reiz: Kuriose und scheinbar absurde Details aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten (zum Beispiel der Naturgeschichte, der Biologie, der Anthropologie) werden mit erfundenen Nachrichten zu phantastischen Geschichten vermischt. Die Grenze zwischen harter Wissenschaft und literarischer Fiktion wird aufgelöst. So präsentiert etwa Eckhard Holzmann in Heft 2 des 'Simurgh‘ eine faszinierende Montage von Katastrophenberichten, in der es um die genetische Erzeugung von Mörderbienen, Riesenratten, um Alligatoren in der Kanalisation amerikanischer Großstädte und um andere mysteriöse Vorfälle aus dem Reich der Wissenschaftsfiktion geht. Heft 3 des 'Simurgh‘, das sich schon in seiner typographischen Gestaltung als kleines Kunstwerk darbietet, konzentriert sich auf das Thema „Landschaft“. Neben einem Essay über Uwe Johnson und seine Landschaft Mecklenburg finden sich zwei Texte älteren Datums. Roland Barthes' ideologiekritische Analyse eines Reiseführers stammt aus dem Jahr 1957 und ist doch unvermindert aktuell, zeigt sie doch, wie unsere selektive Wahrnehmung von Landschaften erzeugt wird. Faszinierend zu lesen sind auch die Tagebuchaufzeichnungen des Neuromantikers Rudolf Borchardt (1877-1945), die von einem Besuch in der Stadt Worms handeln und in hohem Pathos die Entzauberung der auratischen Stadtarchitektur beklagen. Ihren rätselhaften Titel hat die Zeitschrift übrigens einer wundersamen Geschichte von Jorge Luis Borges entlehnt.
Wacher im Niemandsland: KONZEPTE
Wo 'Auf, Und, Davon die „ziellosen Nomaden des Geistes“ am Horizont der neunziger Jahre auftauchen sieht, will 'Konzepte‘, das „Magazin für junge Literatur“, die literarischen Grundrisse für die neunziger Jahre vorzeichnen. All die wackeren Repräsentanten der „jungen Literatur“, die da nach neuen „Richtungen und Tendenzen für eine Prosa der neunziger Jahre“ Ausschau halten, fechten klammheimlich einen Generationskonflikt aus. Denn zwischen den Zeilen vieler Beiträge schwingt die Vorstellung mit, der „junge Autor“ erwerbe allein durch seine Jugend gegenüber den älteren Kollegen einen qualitativen Vorsprung an avantgardistischem Bewußtsein. Da erhebt sich natürlich die Frage: Wann ist denn nun ein Autor über die Altersgrenze der „jungen Literatur“ hinausgewachsen, um fortan als alter Routinier zu gelten? Der Literaturbetrieb zeigt sich hier bekanntlich ziemlich gnädig: Bis zum Erreichen des fünfzigsten Lebensjahres wird man in Deutschland unwidersprochen als „junger Erzähler“ oder „junger Lyriker“ tituliert. Solchen peinlichen Definitionsproblemen stellen sich die 'Konzepte‘-Autoren natürlich nicht, sondern wagen sich lieber an kühne Visionen und Utopien. „Der Feind ist die Ich-Technologie“, verkündet Norbert Niemann in einem sogenannten „Frontartikel“ in Heft 9 von 'Konzepte‘ und zielt damit auf einen sprachnaiven und selbstmitleidigen Subjektivismus in der Literatur, der sich seine Themen und seine Sprache von den audiovisuellen Medien vorgeben läßt. Jenseits aller Arroganz der „schwafelnden schönschriftler im mediengewühl“ geht es laut Niemann darum, „Sprache als Codierungsinstrument“ transparent zu machen und nicht in die Falle des „medientechnologischen Ich-Angebots“ zu gehen. Niemanns ehrgeiziges Konzept von Sprach- und Medienkritik spart nicht mit Polemik gegen die „Etablierten“, bleibt aber rettungslos ungenau. Auch in den 'Konzepte‘-Beiträgen von Norbert Krott scheint vor allem ein Gesetz zu gelten: Die Langweiler sind in der Literatur immer die andern. Fehlende Argumente werden vor allem bei Rüger, der sich selbst als „mutigsten Verleger in Deutschland lobt, mit Bekundungen eines ausgeprägten Selbstbewußtseins überspielt. Außer naßforschen Gesten enthält das 'Konzepte‘-Heft auch lesenswerte Beiträge: einen Hörspieltext des Ostberliner Autors Jens Sparschuh, Text-Bild-Collagen von Johannes Jansen, einige Prosaproben des Kölner Autors Marcel Beyer und ein aufschlußreiches Gespräch der 'Konzepte‘-Redaktion mit Bert Papenfuß-Gorek und Reiner Schedlinski. Wer bislang geglaubt hatte, die Ära der Sprachrevolteure vom Prenzlauer Berg sei vorbei, wird hier eines Besseren belehrt. Den Gedanken der Subversion gelte es zu retten, erklärt Papenfuß-Gorek, und weiter: „für diese Subversion gibt es nach der Wende nicht weniger Anlaß, sondern mehr.“
Leibchen mit Leoparden- sprenkeln: DER SANITÄTER
Mit Cut-Up-Prosa im Stil von William Seward Burroughs wird man in Heft 3 des 'Sanitäter‘ bombardiert. 'Der Sanitäter‘, mit seinem artistischen Hochformat von 41,5x15 Zentimeter eins der originellsten Blätter aus dem subliterarischen Bereich, verlegt sich in seiner jüngsten Ausgabe — leider — auf Sex&Drugs&Rock'n-Roll-Stoffe, die von einem verspäteten Hippie-Bewußtsein zeugen. Für alle LeserInnen, die sich nicht zur eingeschworenen Beat-Generation-Gemeinde zählen, stellen sich rasch Schwierigkeiten ein. Denn die Stories um Spontanfick und Jointqualmerei strotzen von Klischees (Textprobe: „Das Lexikon der Liebe! Er liegt am Boden, sie hat nur das blaue Leibchen mit den Leopardensprenkeln an...“) und sind — trotz der suggestiven Beschwörung erotischer Intensitätskurven — sterbenslangweilig.
Auf der Suche nach Feinden: SUB-BILD
Ziemlich subversiv gebärden sich zwei Autoren von Sub-bild, der „Zeitschrift für poröses Denken“. Matthias Hagedorn und A.J. Weigoni schwärmen in ihren Thesen zur „Literatur der 90er“ von den multimedialen Aktivitäten einer neuen Generation von „Independent- Schriftstellern“. „Ihr Arbeitsmaterial sind Fotokopiergeräte, Soundsampler und EDV. Diese neue Generation von Schriftstellern befindet sich in der Situation des Baron von Münchhausen, der sich der Legende nach mitsamt Pferd am eigenen Schopf aus dem Sumpf zog. Sie lesen nicht, um ein Schulterklopfen von Freunden zu erhalten, sondern spielen für Feinde und haben so ein unbestechliches Stammpublikum erarbeitet.“ Entgegen solcher Selbstzuschreibungen subliterarischer Auserwähltheit gibt es kaum Anzeichen dafür, daß die selbsternannten „Independent-Schriftsteller“ mitsamt ihrem „unbestechlichen Stammpublikum“ den szenischen „Sumpf“ je verlassen hätten. An Bestätigungen der eigenen Großartigkeit sind die übrigen Sub-bild-Beiträger, meist Collagisten, „Zettelkastenfussler“ und Montagekünstler, nicht interessiert, im Gegenteil. In Sub-bild hat fast alles mühelos Platz: der Kalauer neben dem visuellen Gedicht, die wüst zusammengestoppelte Collage neben dem lockeren Cartoon, die pseudosurrealistische Verworrenheit neben dem lakonischen Witz.
Skurriler Dauerbrenner: AM ERKER
Die Münsteraner Literaturzeitschrift 'Am Erker‘, ein Dauerbrenner unter den Kleinstzeitschriften — sie erscheint, was durchaus rekordverdächtig ist, bereits im 13. Jahrgang! — favorisiert skurrile Kurzprosa nach Art des großen Lakonikers Ror Wolf. Neben einigen harmlosen Reisegeschichten enthält Heft 22 zwei kafkaeske Prosatexte von Hartmut Kasper und Christa Reinig und ein instruktives Gespräch mit dem Schriftsteller Sten Nadolny über seinen Roman Selim oder die Gabe der Rede. Zu diesen bemerkenswerten Texten gesellt sich noch eine satirische Warnung vor dem großen deutschen Roman über die Wiedervereinigung, ausgesprochen in einem fiktiven Interview mit einem geissen Wilhelm C.Borgmeier...
Ein Meisterstück: Die Nürnberger BATERIA
Eine Zeitschrift, die die alternativen Kinderkrankheiten längst überwunden hat, ist die Nürnberger 'Bateria‘. Keine Spur von produktionstechnischer Schlampigkeit oder literarischer Nachlässigkeit, wie sie als fast obligatorische Eigenschaften in den Zeitschriften der subliterarischen Szene anzutreffen sind. Ein Musterbeispiel editorischer Sorgfalt und ästhetischer Kompetenz liefert das neue 'Bateria‘-Doppelheft mit dem Themenschwerpunkt „Neue amerikanische Literatur“. Ausgehend von dem „Triumvirat“ Raymond Federman, George Chambers und Walter Abish werden vorwiegend Autoren der New Yorker Lyrik-Szene vorgestellt. Es zeigt sich, daß das zeitgenössische amerikanische Gedicht noch immer an jenem Gestus von Spontaneität und autobiographischer Direktheit festhält, der im deutschsprachigen Raum seit der Inflation von Alltagsgedichten in Verruf geraten ist. Eine Behauptung allerdings, die Rolf Dieter Brinkmann 1969 über die neue amerikanische Lyrik aufgestellt hat, läßt sich heute (auch im Blick auf die deutsche Lyrik-Szene) nicht mehr wiederholen: „nämlich daß literarische Aktivität sich unmittelbar in einem voroffiziellen Bereich abspielt, dem Bereich der kleinen Pressen und hektographierten Lyrik-Magazine“. Dieser „voroffizielle“ Bereich wird hierzulande seit Jahren beherrscht von den Protagonisten eines literarischen Biedersinns, die emsig an ihrem Selbstbild als „Independent-Schriftsteller“ basteln und sich das in geschlossener Szene-Gesellschaft bestätigen. Nein, eine „Prenzlauer Berg-Connection“ hat es im Westen nie gegeben. Auffallend ist doch der ästhetische Abgrund, der die ostdeutschen Sprachrebellen vom Schlage eines Bert Papenfuß-Gorek, Jan Faktor oder Reiner Schedlinski von ihren literarisch kurzatmigen Generationskollegen im Westen trennt.
AUF, UND, DAVON; Hefte 1-3, (1990); Droschl Verlag, Bischofplatz 1, A-8010 Graz. Je 56 Seiten. Je 6 DM
DER SIMURGH, 2 und 3 (1990), Kurt Wiessner, Gartenfeldstraße12, 6800 Mannheim. Je 64 Seiten. Je 5 DM.
KONZEPTE 9 (1990), Stefan Sprang, Richard-Wagner- Straße45, 4300 Essen 1. 130 Seiten. 7 DM.
SUB-BILD 1 und 2 (1990), Willem van Dijk, Gaisbergstr. 18, 6900 Heidelberg. Je 100 S., je 7 DM.
DER SANITÄTER 3 (1990), Verlag Peter Engstler, Oberwaldbehrungen 13, 8745 Ostheim/Rhön. 52 Seiten. 12 DM.
AM ERKER 22 (1990), Dahlweg64, 4400 Münster. 74 S., 6 DM.
BATERIA 9/10 (1990), Wilhelm- Busch-Straße 21, 8500 Nürnberg90. 186 Seiten. 15 DM.
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