: „Ein wütender Spezialkrieg“
■ Ein Gespräch mit dem Generalsekretär der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK), Abdullah „Apo“ Öcalan, über den Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdischen Dörfer, Aussichten der Kurden auf ein eigenes Territorium, die Bündnispolitik der PKK und über Demokratie und Personenkult in der Partei
taz: 1984 wurde von Seiten Ihrer Organisation der bewaffnete Kampf gegen die türkische Autorität eröffnet. 6 Jahre später, im Frühjahr 1990, kam es anläßlich der Volksbewegung in Kurdistan zumindest zu starken Sympathiebekundungen gegenüber der PKK. Die Auseinandersetzung findet nun nicht mehr nur in den Bergen statt, sie wird von einer Massenbewegung begleitet, die sich sogar in den Städten formiert. Wie soll es weitergehen?
Öcalan: Wir haben den bewaffneten Kampf nicht mit der Maxime begonnen, stets nur Gewalt anzuwenden. Als wir anfingen, ging es uns darum, die Existenz des kurdischen Volkes unter Beweis zu stellen. Wir wollten die Diskussion über die nationalen Rechte und die Freiheit unseres Volkes beginnen. Daraufhin wurden wir vom Staat mit Waffengewalt angegriffen. Wir waren gezwungen, unsere Vorstellungen gegen diese Gewalt zu verteidigen.
Wir haben aber den bewaffneten Kampf niemals zum Fetisch erhoben oder für unverzichtbar erklärt. Wenn der türkische Staat die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Organisationsfreiheit garantiert und die Entstehung einer politisch arbeitenden Volksbewegung zugelassen hätte, wäre die Gewalt niemals in den Vordergrund getreten.
Ich habe in einem Interview mit der Zeitung 'Hürriyet‘ erklärt, daß wir zum Waffenstillstand bereit sind. Unsere Forderungen bezogen sich auf das Recht, demokratische Organisationen zu gründen und uns frei politisch zu betätigen, auf Abschaffung der Folter in den Gefängnissen und Freilassung der politischen Gefangenen sowie auf die Durchführung eines Referendums, das über die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts durch unser Volk entscheiden sollte.
Unter diesen Bedingungen ist die PKK bereit, die Waffen niederzulegen, zu diskutieren und das Problem mittels politischer Verhandlungen zu lösen. Darauf haben sie mit verschärfter Aggression geantwortet. Wer die türkische Geschichte kennt, weiß, daß nun ein erneutes Gemetzel am kurdischen Volk vorbereitet wird.
Es geht Ihnen darum, die in der Türkei, im Iran und Irak und in Syrien liegenden Teile Kurdistans zu einem kurdischen Staat zu vereinigen. Wie soll dieses Ziel erreicht werden, dem nicht nur die Regierungen der genannten Länder massiv widersprechen, sondern auch die Nato und die EG?
Natürlich ist es heute sehr schwer, das geteilte kurdische Volk auf seinem Territorium zu einer politischen Einheit zusammenzuschließen. Trotzdem müssen wir an dieser Forderung festhalten. Doch vorher ist es unsere Pflicht, praktische und realistische Vorstellungen zu entwickeln, die uns einer Lösung der kurdischen Frage näher bringen.
Wir befürworten es, auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Freiheit zu einer Lösung mit dem türkischen Staat zu kommen. Eine Demokratisierung des Staates, die Stärkung des kurdischen Volkes in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht und die Schaffung eigener Institutionen sind wichtige Entwicklungsstufen auf diesem Wege.
Wir betrachten die Abtrennung von der Türkei durchaus nicht als die einzige Lösung, sondern befürworten eine Reorganisierung dieses Staates und einen Zusammenschluß auf der Basis von Freiheit und Gleichheit, in Form einer Föderation oder Konföderation. Schließlich tendiert man heute weltweit dazu, Lösungen zu finden, die auf der Unabhängigkeit einer jeden Nation basieren. Ein solches Modell, ein Bund unabhängiger Nationen, ist auch für die Türkei denkbar.
Ist die PKK nicht eines der letzen Beispiele für eine historisch fragwürdig gewordene leninistische Avantgardepartei, von deren klassischen Konzepten sich selbst die Kommunisten von Moskau über die DDR bis hin zur KP Südafrikas lossagen?
Die PKK unterscheidet sich nicht erst in jüngster Zeit, sondern schon seit ihrer Gründung gewaltig von den traditionellen kommunistischen Parteien. Wir haben uns schon in den 70er Jahren mit der Sowjetunion und der ihr verbundenen türkischen KP auseinandergesetzt. 1985, also noch vor Gorbatschow, habe ich geschrieben, daß die traditionellen KPs sich entweder auflösen werden oder einen radikalen und qualitativen Veränderungsprozeß durchmachen müssen. Die Geschichte hat diese Auffassung bestätigt, denn diese Parteien sind fast am Ende.
Die PKK ist bemüht, einen in der Welt vielleicht einmaligen schöpferischen Sozialismus zu fundieren, der die Fehler dieser kommunistischen Parteien aufarbeitet und sie auf keinen Fall wiederholt. Unserer Ansicht nach muß der Sozialismus in der Lage sein, dem Einzelnen und den Nationen mehr Freiheit zu bieten als der Kapitalismus. Die Unfreiheit des Individuums ist für mich eine Erscheinung, die im Widerspruch zum Sozialismus steht.
Wie steht es denn um die Demokratie innerhalb der PKK?
In unserer Gesellschaft, in der feudales Denken vorherrscht, ist es um die Demokratie nicht gut bestellt. Hinzu kommt, daß der türkische Kemalismus stark antidemokratische Züge trägt. Wir haben deshalb innerhalb und außerhalb der PKK einen entschiedenen demokratischen Kampf gegen beide Erscheinungen geführt. Wenn dieser Kampf nicht stattgefunden hätte, wären wir nie so weit gekommen. Zweifellos gibt es innerhalb und außerhalb unserer Partei noch viele undemokratische Auffassungen, aber es gibt vor allem die Bemühung darum, die Demokratisierung fortzusetzen.
Allgemein wird aber behauptet, daß Sie als Generalsekretär fast alle Macht der Partei in Ihren Händen konzentrieren?
Es trifft zu, daß ich über große Macht verfüge. Obwohl ich die Konzentration von Macht in den Händen eines Einzelnen entschieden ablehne, zwingen mich die Umstände, an dieser Position festzuhalten. Die Ursachen dafür liegen auf der Hand: Das kurdische Volk wurde in nationaler und sozialer Hinsicht an jeder Entwicklung gehindert. Die koloniale Knechtschaft und das Bewußtsein des Kolonisierten schließen nationales Denken aus. Das verbleibende beschränkte und egoistische Denken führt dazu, daß viele immer noch nicht bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Meine Autorität resultiert daraus, daß ich praktisch alleine begonnen habe, das kurdische Problem als eine nationale Frage zu behandeln. Seinerzeit bekannte sich so gut wie niemand zur kurdischen Identität. Wer in einer derart isolierten Position den Willen und die Kraft aufbringt, ein großes Anliegen und nationale Interessen zu vertreten, wird fast automatisch zur Autorität. Daraus bezogen die Bewohner der Stadt Cizre ihre Überzeugung, als sie dort während des Aufstands skandierten: „Es lebe Apo!“. So etwas geht nicht von mir aus, ganz im Gegenteil, ich lehne das an sich ab.
Ich möchte lieber heute als morgen den Personenkult überwinden und führe einen intensiven Kampf um kollektive Strukturen. Diesen Gefahren zu begegnen, den Personenkult zu überwinden, heißt langfristig auch die führende Rolle einer Partei oder des Staates zu überwinden, damit das Volk selbst entscheidet und seine Angelegenheiten in die eigene Hand nimmt.
Der PKK wird vorgeworfen, sowohl eigene Mitglieder als auch Mitglieder und Funktionäre anderer Organisationen mit abweichenden Meinungen liquidiert zu haben. Sind solche Dinge passiert? Können Sie sie verantworten, und warum ist das geschehen?
Es kann keine Rede davon sein, daß jemand verfolgt wird, weil er andere Ansichten vertritt. Die Praxis der PKK beweist, daß wir uns mit aller Kraft dafür einsetzen, daß sich jeder an der Diskussion der anstehenden Fragen beteiligt und Anteil an gemeinsamen Entscheidungen hat.
In der Vergangenheit ist es in Abweichung von der Parteilinie zu einigen Gewalttaten gegen andere linke Kräfte genommen. Das gibt es inzwischen nicht mehr. Wir haben gesagt, daß das falsch ist. Inzwischen haben wir zu den meisten linken Gruppen gute Beziehungen. Mit allen Organisationen und mit Personen innerhalb und auch außerhalb der Partei verfahren wir nach den Grundsätzen einer Konfliktlösung auf politischem Wege.
Was verstehen Sie unter „Spezialkrieg“ des türkischen Staates? Was können Sie uns zur deutschen Unterstützung für die türkische Regierung sagen?
Wir sind heute in der Türkei mit einer besonders gefährlichen Variante eines Spezialkriegs konfrontiert. Dieses Kriegskonzept ist in vielen anderen Ländern auch zur Anwendung gekommen, aber nirgendwo in einer so wütenden, erbarmungslosen und hinterhältigen Weise wie hier. Unbegrenzte ökonomische Mittel werden aufgeboten und 800.000 Militärs — nur gegen die Kurden.
Die türkische Armee ist die fünftstärkste der Welt und hat seit den Osmanen eine schreckliche Erfahrung in Sachen Völkermord. Stammesgruppen und feudale Konflikte werden dabei ausgenutzt. Nato und EG stärken der Regierung dabei auch noch den Rücken. Jede Veröffentlichung unterliegt der Zensur, jeder, der seine Meinung offen ausspricht, kann verbannt werden. Der sogenannte „Supergouverneur“ für die kurdischen Provinzen herrscht wie ein König. Das sogenannte Parlament ist faktisch ohne Bedeutung, die Gesetze der Türkei sind faktisch aufgehoben. Der Supergouverneur herrscht mit seinen unbegrenzten Vollmachten über Leben und Tod.
Auch die Spezialeinheiten verfügen über unbegrenzte Befugnisse. Sie dringen überall ein, verursachen Angst und Schrecken. Alle Arten von Waffen, einschließlich chemischer Kampfstoffe, kommen zum Einsatz. Gegen eine kleine, vielleicht fünf Personen umfassende Guerillaeinheit operieren gelegentlich bis zu 10.000 Soldaten. Selbst das reicht ihnen noch nicht aus. Zusätzlich zur Gendarmerie, zu Sondereinheiten, Landstreitkräften und zur Luftwaffe wurden „Dorfschützer“ genannte Milizen erstellt. Zur Zeit sind 30.000 Dorfschützer unter Waffen. Man hat diese Menschen dem Hunger überlassen und ihnen dann angeboten, ihren Lebensunterhalt als Milizonäre zu verdienen.
Nach dem Muster der Hamidiye- Regimenter im Osmanischen Reich werden mit erheblichem finanziellen Aufwand und mit großen Mengen an Waffen Stammesregimenter aufgestellt. Ich glaube wirklich nicht, daß sonst irgendwo auf der Welt ein Spezialkrieg dieses Umfangs geführt wird.
Und ich bin sicher, daß der Westen und die USA ihre Zustimmung dazu gegeben haben. Gegen diesen Spezialkrieg ist die Entwicklung des Verteidigungskrieges die einzige Alternative. Schließlich ist nicht nur unsere Partei und der Kampf um nationale Befreiung bedroht, sondern — ganz elementar — die Existenz unseres Volkes.
Gibt es einen Unterschied zwischen den Bündnissen der PKK mit Regionalmächten, wie Syrien oder dem Iran, und den Bündnissen der traditionellen kurdischen Organisationen mit diesen Staaten, die in fast allen Fällen zu verhängnisvollen Abhängigkeiten geführt haben?
Da gibt es einen erheblichen Unterschied. Die Bündnisse insbesondere der irakischen Kurdenbewegung mit den Staaten der Region, aber auch ihre Bündnisse mit Europa, basieren auf Abhängigkeit.
Auch wir gehen in begrenzter Form Bündnisse ein. Aber die Regierungen im Mittleren Osten und auch in West- und Osteuropa gehen langfristige Absprachen mit uns aus dem Wege. Sie lehnen es ab, Abmachungen auf der Grundlage des von uns verfolgten strategischen Ziels der Unabhängigkeit Kurdistans einzugehen.
Unsere Bündnisse, die sich an Regierungen des Mittleren Ostens wenden, gehen also über die taktische Ebene nicht hinaus. Die jeweiligen Regierungen wiederum erachten sie ihrerseits als nützlich im Sinne ihrer Regionalpolitik. Dasselbe würde für die europäischen Staaten gelten. Wir sind bereit, Beziehungen zu ihnen aufzunehmen, was sie aber nicht wollen, weil ihre Projekte im Widerspruch zu der von uns angestrebten Lösung der kurdischen Frage stehen.
Mit dem Aufbau von Beziehungen wollen sie die kurdische Problematik in einer für die Türkei und die Nato nicht schädlichen und die bisherigen Abhängigkeiten nicht in Frage stellenden Richtung kanalisieren. Interview: Hans Brandscheidt und Ronald Ofteringer
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