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Es ist nicht zu sagen

Mißhandlungs-Geschichte(n)  ■ von Jens Clausen

Ruhelos zugeklappt, liegt das Buch lange auf dem Schreibtisch. Kann man darüber reden? Besser sich abwenden, schweigen, in die Küche gehen, Teewasser aufsetzen, zur Zeitung greifen? Es hilft nichts. taz 23.10.90, Seite 7. „Sexueller Mißbrauch kein Thema“. Psychiater und Psychologen begutachten in Arnsberg Familienverhältnisse. Der Vater war ruhig, verläßlich, geschäftstüchtig. Außerdem „sehr häuslich“ und „nie gewalttätig“. Und hat die leibliche Tochter seit ihrem zwölften Lebensjahr vergewaltigt; gezwungen, ein Kind von ihm auszutragen. „...'s ist vorbei. Er ist tot...“ ('Spiegel‘ 29.10.90) Sie, die Tochter, steht nun vor Gericht, angeklagt wegen Anstiftung zum Mord. Die Presse überschlägt sich. Kann Mann darüber richten?

Zurück zum Buch Die Tür dahinten; Christiane Rochefort hat es geschrieben. Es ist großartig. Wenn ein Roman über den fortgesetzten sexuellen Mißbrauch eines — in diesem literarischen Fall achtjährigen — Mädchens durch ihren Vater denn „großartig“ sein kann. Die Tochter buchstabiert sich und der Leserin/dem Leser ihre Kindheitsgeschichte, alle durchlittenen Gefühle der Angst, des Schreckens, der Scham, der Ohnmacht, Wut und Verzweiflung vor. Zeitweilig anorektisch, wird sie fast wahnsinnig. Oder sagen das nur die anderen? Der angedrohte Gang zum Psychiater — eines der Erpressungsmittel des vergewaltigenden Vaters, der seiner Tochter als erstes das Schweigen tief eingräbt: „Wenn deine Mutter es erfährt, wird sie sich aus dem Fenster stürzen!“ Unter dieser Drohung ist dem Mädchen kein offener Schritt nach draußen möglich. Eingesperrt in das Unsagbare, zählt es die Tage bis zur Volljährigkeit. Es sind mehr als dreitausend.

Andere werden wahnsinnig daran. Die Psychiatrie hätte viel zu tun, ihre sogenannten Krankengeschichten neu zu lesen, die Vorgeschichten des Wahnsinns auf mögliche sexuelle Übergriffe in der Familie hin zu überprüfen. Jede vierte, jede dritte? Jede zweite Psychiatrie- Patientin einer Klinik in Kalifornien, erzählt mir eine Kollegin, die sich in den USA damit befaßte. Aber was sind Zahlen. Die ganz individuellen Verletzungen an Leib und Seele bleiben sowieso im dunkeln. Selbst wenn die so erlittenen Schäden, die Mann (Vater, Onkel, Opa, Bruder) angerichtet hat, erkannt und ausgesprochen würden: wie damit leben? Wie sich davon befreien?

Ein realer „Fall“: eine Frau, knapp volljährig, kommt in die Psychiatrie, von Mutter und Schwester gebracht. Sie wirkt distanzlos, verwirrt, nachlässig, redet von all den Babys, die sie in die Welt gesetzt habe. Tatsächliche Schwangerschaften sind nicht bekannt. Ein Stud. Psych. darf den IQ prüfen: 52. „Geschlechtsverkehr“ antwortet die Geprüfte häufig. Die Ärztin schreibt den Begriff „Schwachsinn“ in die Akte — die Erkrankte hat Realschulabschluß! Weiter lautet die Diagnose: „Hebephrenie“. Knapp zwei Jahre Aufenthalt in der Anstalt. An der Verwirrtheit ändert sich nichts. Auf die chronische Station? Ein Platz in einem Wohnheim wird frei. Oft stöbert sie dort nachts im Keller nach Kinderkleidung. Was sie sagt, bleibt häufig unverständlich — „Bauch“, „Kopf“, „Babys“ sind jedoch die wiederkehrenden Begriffe. Die Frau besucht regelmäßig („ich krieg von ihm die Spritze“) einen niedergelassenen Psychiater, der ihr Fluanxol- Depot (1 ml, 2 Prozent, 14tägig) und Haldol (20-10-20 mg) verordnet. Sie lebt so mehr als zehn Jahre im Heim.

Anmerkung: Die sexuellen Übergriffe durch den Vater sind in ihrer „Kranken“-Geschichte von Anfang an erwähnt — mit dem Vermerk, es seien vielleicht nur ihre Phantasien. Verrückt.

In dem Roman Die Tür dahinten phantasiert Christiane Rochefort das Reale: Ein Vater kehrt nach Jahren der Abwesenheit zu Frau und Kind zurück. Die Mutter, dem äußeren Bild der heilen Familie weit mehr zugeneigt als dem fleischlichen Ehemann, verläßt mit Migränen das Feld. Der Vater vergreift sich, wo immer er kann; läßt seiner achtjährigen Tochter keine Chance, selbst kleine Fluchten sind verbaut:

„Nein, laß mich zuerst meine Aufgaben machen!“

„Was?“ Er streckt seine große Faust aus. Ich flüchte hinter meinen Stuhl, das ist alles, was ich habe.

„Nein, nein und nochmal nein! Ich mache zuerst meine Aufgaben, dann komme ich!“ brülle ich.

„Ich warte“, sagt er und bleibt wie ein Arschloch im Schlafanzug stehen. ... „Hinterher kannst du um so besser arbeiten“...

Das Mädchen steht am Rande des Zerbrechens: „... da ich in Fetzen davonging, habe ich meine fehlenden Stücke (und das waren nicht die kleinsten) zusammenfügen müssen ...“. Als Waffen bleiben ihr nur wenige Mittel: „... niemand liest gegenwärtig in mir. Ich habe den Laden dicht gemacht. Vorhang. Geschlossen wegen Notwehr.“ Anderes Entkommen (Offenheit gegenüber der Mutter. Flucht. Tötung des Vaters. Beichte. Anklage bei der Polizei) überlegt sie, muß sie verwerfen. Erst in späteren, erwachsenen Gesprächen mit Freundinnen, mit Freunden kann die Ich-Erzählerin sich mit den Scherben befassen. Und kann sich von der Seele schrei(b)en, was ihr widerfuhr.

Jedes Wort, das sie benutzt, das ganze Buch wirkt wie an den Kopf geworfen. Wem? Dem Vater? Der Mutter? Jedem? Egal, sie wirft eben, weil sie es muß. Zum Überleben, um nicht mit „gelähmter Zunge“ zu enden, um nicht verrückt zu werden. Und anders kann es auch gar nicht gesagt werden. Christiane Rochefort hat dazu die richtigen Worte gefunden (die deutsche Übersetzung weitgehend auch), Wörter, Sätze, die atmen und in Atem halten. Frau wird es lesen. Mann muß es.

Christiane Rochefort: Die Tür dahinten. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Suhrkamp Verlag, 248 Seiten, 32 DM

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