Ideeller Gesamtgrüner auf Touren

Als Wahlkämpfer für die Grünen ist Vorstandssprecher Hans-Christian Ströbele kein Zuschauermagnet, doch für die Partei ist der Parteilinke als Integrationsfigur unverzichtbar/ Käme es drauf an, würde er sogar „mit dem Teufel verhandeln“  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

Sind es die Nachrichten vom Ende der rot-grünen Koalition in Berlin, die Hans-Christian Ströbele in der Gießener Kongreßhalle kämpferischer und nachdrücklicher erscheinen lassen als am Abend zuvor in Siegen, wo der grüne Vorstandssprecher zögerlicher, tastender wirkte? Sein Vortrag vor den rund 300, zumeist studentischen Zuhörern ist — trotz des gleichen Inhalts wie am Vorabend und bei den dazwischenliegenden drei Presseterminen — schwungvoller, hat mehr Würze und Pointen. Ein Wahlkämpfer, der mit beißender Polemik und geschliffenen Gags die Leute mitreißt, ist Ströbele dennoch nicht. Nur selten kommt Beifall auf, zustimmend und freundlich, aber kurz. Es mag an dem Sicherheit vermittelnden grün-spezifischen Milieu in Gießen liegen, (mit über 14 Prozent Wahlstimmen eine Hochburg der Partei), daß mehr von den rhetorischen Qualitäten aufblitzt, mit denen der tiefe Kenner der grünen Seele auf Parteitagen unter Ovationen die rot-grüne Koalition in Berlin durchboxte oder vor acht Wochen der von Übertritten zur PDS gelähmten Partei wieder Links-Profil gab, ohne damit Flügelkämpfe anzuheizen. Die aktuellen Ereignisse kommen dem Wahlkämpfer, an der Kongreßhalle mit Leuchtschrift wie für einen Boxkampf angekündigt, entgegen. Die Durchsuchung der Bonner Parteizentrale wegen des Aufrufs der Grünen zur Fahnenflucht und auch die Koalitionskrise in Berlin haben der Partei die von Ströbele im Wahlkampf bislang vermißte Zuspitzung beschert und ihre Oppositionsrolle betont. Es stört ihn nicht, daß Jutta Ditfurth und Joschka Fischer in der Vergangenheit in Gießen mehr als doppelt soviele ZuhörerInnen angezogen haben. Polarisieren mit innerparteilich zugespitzten Positionen — darin sieht der 51jährige Anwalt nicht seine Aufgabe, auch wenn es Medienpopularität verheißt. Die Wahlkampfauftritte des seit dem Sommer amtierenden Vorstandssprechers unterstreichen dafür immer wieder, daß er in seiner Rolle als ideeller Gesamtgrüner und Moderator zwischen den Flügeln für seine Partei derzeit unverzichtbar ist. Frontmann zu sein für die Parteilinke, wie es einige — teilweise inzwischen zur PDS abgewanderte — Linke beabsichtigten, als sie ihn im Juni zur Kandidatur gegen den Aufbruch-Vertreter und damaligen Vorstandssprecher Ralf Fücks drängten, mißfällt ihm, auch wenn er sich den Parteilinken zuordnet.

Radikal, aber ohne schroffe Endgültigkeit

In fünf Monaten ist der Berliner zur zentralen Figur der Partei geworden. Den Bundesvorstand hält er auf seinen wöchentlichen Sitzungen mit seinen Vorschlägen in Bewegung und half mit, aus dem parteiinternen Kriegsschauplatz wieder ein arbeitsfähiges Gremium zu machen. Wenn er in Siegen über den Gewinn der Partei durch die DDR-Bürgerbewegungen spricht, könnte dies auch von Aufbruch-Sprecherin Antje Vollmer stammen. Und die Bemerkungen zur Eigeninitative in der Marktwirtschaft können hartgesottene Realos ebenso befriedigen wie die Selbstverständlichkeit, mit der er auch einer Ampelkoalition mit der FDP keine generelle Absage erteilt. Es ist bemerkenswert, wie er seinen radikalen Gestus, der so sehr der Gemütslage der Partei entspricht, immer wieder bricht und jene schroffe Endgültigkeit einer Position vermeidet, die Gespräche abbrechen läßt. Diese Fähigkeit hat ihm politischen Spielraum verschafft; erlaubt ihm die Rolle als rot-grüner Architekt in Berlin ebenso wie die des scharfen SPD-Krtitikers, ohne daß er an Glaubwürdigkeit und Profil verlöre. Auch wenn er derzeit keine Gemeinsamkeit mit der SPD auf Bundesebene sieht — wenn die Situation da ist, werde man alles versuchen, vertritt er vor seinen ZuhörerInnen: „Weil ich unsere Inhalte ernst nehme, setze ich mich auch mit dem Teufel zusammen“.

Theoretische Entwürfe sind nicht seine Sache. Der strikte Antialkoholiker, Nichtraucher und Milchtrinker verbindet in sich die Glaubwürdigkeit der fast schon anachronistischen Gemengelage der Bewegungen in der Gründungsphase der Grünen mit der Rolle des pragmatischen Machers. Sein Bemühen zielt unausgesprochen auf die Entideologisierung der Partei. Er selbst wählte sich als Bundestagsabgeordneter (1985 bis 1987) den querdenkenden Realo- Hardliner Udo Knapp zum Mitarbeiter. Diesem droht gegenwärtig der Parteiausschluß wegen der Empfehlung, die Bundesrepublik sollte ihrer Weltmachtsrolle gemäß am Persischen Golf militärisch eingreifen. Wie sich die Zugänge aus der DDR, die mit „links“ wenig anzufangen wissen, für das Gefüge der Grünen auswirken werden, ist derzeit ungewiß. Ströbele, der die Balance der Flügel erhalten will, ist sich freilich sicher, daß es neue Auseinandersetzungen und Flügelkämpfe geben wird. „Spannend“ findet er diese Perspektive.

Den Marxschen Denkansatz nennt Ströbele immer noch eine „Grundwahrheit“. Seine Überzeugung, die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten müßten auf jede nur denkbare Weise vergrößert werden, zeigt gleichsam einen individualistischen Ansatz.

Mix aus Marx und Individualität

Er trifft sich andererseits mit den Realos, wenn er die bei den Grünen weit verbreitete Prominentendemontage ablehnt. Die Grünen müßten lernen, daß politische Inhalte am wirksamsten transportiert werden durch Persönlichkeiten. Ströbeles persönliche Integrität erlaubt es auch, dringend notwendige Strukturveränderungen der Partei zu skizzieren — wo Realos und Aufbruch sofort Mißtrauen entgegenschlagen würde, ihnen ginge es nur darum, interne Gegner kaltzustellen.

Er wünscht sich eine deutliche Verkleinerung und Professionalisierung des bislang elfköpfigen Bundesvorstands. Den meist wenig nachvollziehbar besetzten Bundeshauptausschuß (BHA), höchstes Gremium zwischen den Parteitagen und Bastion der selbsternannten Basisvertreter, möchte Ströbele abschaffen. Ein neues Gremium soll durch Mitwirkung der jeweiligen Landesvorstände dafür sorgen, daß Bundesbeschlüsse auch wirklich umgesetzt werden und der BHA nicht lediglich nur Blockadeinstrument für den Bundesvorstand ist. Doch auf die Trennung von Parlamentsmandat und Parteiamt beharrt er.

Es ist das Los des Wahlkämpfers, täglich die gleichen Themen anzusprechen: Die Grünen sind unverzichtbar — ob als einzige Warner vor dem drohenden Einsatz deutscher Soldaten am Golf oder als Wahrer eines demokratischen Wahlgesetzes und auch als jene Partei, die Konzepte für die katastrophalen Folgen der zu schnellen Vereinigung und die Klimakatastrophe parat hat. Vieles aber läßt ahnen, daß sich in ihm eine Partei darstellt, die ihre originärste Ausdrucksform in der Opposition hat. „Mit Rechtsbruch dürfen sie mir nicht kommen“, antwortet Ströbele einem Journalisten, der sich an dem Fahnenflucht-Aufruf stößt. Ströbele setzt auf Regelverletzungen als Mittel grüner Politik und äußert die hoffnungsvolle Erwartung, die DDR- Bürgerrechtsgruppen könnten ein „Jungbrunnen“ sein und die Grünen wieder lehren, daß Politik von unten und von der Straße kommmen muß. „Links ist weder das Programm noch die Praxis“, geißelt er die PDS bei Wahlauftritten. Aber er schließt — falls die PDS in den Bundestag kommt — eine Zusammenarbeit nicht aus. Daß er „entäuscht“ ist über jene Parteifreunde, die zur PDS wechselten, verhehlt er nicht. Die Rückkehr zu den Grünen aber dürfe man ihnen deshalb nicht verschließen. Optimist zu sein, wie es der Mann mit den buschigen Augenbrauen und der Kleidung der siebziger Jahre auf seiner Tour bei der Frage nach dem Abschneiden der Grünen immer wieder betont, ist nicht Pflichtgestus des Wahlkämpfers Ströbele, sondern Charakterzug. „In Berlin ist mir der Pessimismus ausgetrieben worden“, sagt er. Dort habe vor eineinhalb Jahren die CDU scheinbar uneinholbar vorne gelegen und sei dann doch noch abgestürzt, bemerkt er zu seinen Erwartungen am 2. Dezember. Doch die liebste Konstellation, sagt er im privaten Gespräch, wäre ihm ein knapper Sieg der Regierungskoalition; so knapp, daß ein Zerwürfnis angesichts der Probleme mit der DDR- Eingliederung absehbar wäre. Indirekt bestätigt er damit jene Kritik von Antje Vollmer, die Grünen wollten nicht Verantwortung übernehmen, sondern sich ihre Nische, die „Pädagogische Provinz“ suchen, in der Unschuld der Opposition.