Ausbruch aus dem Machtvakuum?

Gorbatschow will „Offensive“, läßt aber klare Antworten vermissen/ Jelzin für Krisenstab statt Regierung/ Erbitterte Kontroverse über die Gründe der gegenwärtigen Versorgungsmisere in der SU  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Das bereits gewohnte Bild der wirtschaftlichen und sozialen Krise des Landes zeichnete der Präsident in seinem Bericht zur Lage der Nation, mit dem er die gestrige Sitzung des Obersten Sowjets der UdSSR eröffnete. Direkter denn je zuvor gab Gorbatschow zu, daß die Zentralregierung inmitten eines Machtvakuums existiere. Er sehe sich mit „wütenden Versuchen“ konfrontiert, „die Organe der Staatsmacht zu diskreditieren“. In diesem Zusammenhang beschwerte er sich besonders über die „Entehrung der Armee in einigen Massenmedien“. Gorbatschow kündigte Maßnahmen zur Erhöhung der Autorität und „qualitativen Vervollkommnung“ der Streitkräfte und eine Verbesserung der Lage der Soldaten sowie ihrer Familien an. Außerdem, so Gorbatschow, beabsichtige er, demnächst die in einigen Unionsrepubliken erlassenen Gesetze aufzuheben, die die Angehörigen der Streitkräfte der Gleichberechtigung berauben. Diese Anspielung bezog sich vor allem auf die baltischen Republiken, wo die dort stationierten russischen Soldaten nicht mehr automatisch über das Wahlrecht verfügen.

Energisch verwahrte sich der Präsident gegen den Vorwurf, er verfüge über keinen Plan, der einen Ausweg aus der Krise weise. „Wir haben uns“, rief er aus, „genug verteidigt, es ist jetzt Zeit, anzugreifen“ und fügte hinzu: „Wir haben ein konkretes Programm. Und es muß erfüllt werden.“ Gorbatschow äußerte sich ausführlich zur wirtschaftlich-sozialen Situation des Landes angesichts des bevorstehenden Winters und kritisierte scharf die „grassierenden Spekulationen mit dem Hunger und der Kälte“. Im Lande seien durchaus den realen Bedürfnissen entsprechende Vorräte vorhanden. Versorgungsengpässe führte er auf die äußerst niedrige Versorgungsdisziplin und den zunehmenden „Lokalpatriotismus“ zurück. Die Handelsbarrieren, die einzelne Republikregierungen und Städte errichtet haben, bezeichnete Gorbatschow als unzulässig, da sie den normalen Warenfluß behinderten.

Eben um die Beziehungen der fünfzehn ehemaligen Sowjetrepubliken untereinander und zur Moskauer Zentralregierung sollte es an diesem Tage gehen: um die Frage eines neuen Unionsvertrages. Eine Debatte zu diesem Thema war, ebenso wie der Präsidentenbericht am vergangenen Donnerstag, kurzfristig von der Mehrheit der Abgeordneten gefordert worden. Eilig hatten sich Vertreter fast aller Republikregierungen nach Moskau begeben, um ihren Vorstellungen zur mehr oder weniger gemeinsamen Zukunft vor dem Parlament Ausdruck zu verleihen. Allein Litauen hatte keine offiziellen Repräsentanten nach Moskau entsandt.

Den Reigen der für den ersten Tag vorgesehenen prinzipiellen Äußerungen aller anwesenden Republikenvertreter eröffnete Rußlands Präsident Boris Jelzin. Er charakterisierte die gegenwärtige „Paralyse der Macht in der Sowjetunion“ als Krise des „totalitären Staates“. Die Vorstellungen der gegenwärtigen Regierung der Union seien darauf ausgerichtet, den „unitären Staat um jeden Preis zu rekonstruieren“. Jelzin bezeichnete die Politik der Zentralregierung als „objektiv destabilisierend“, sie hindere die Republiken an ihrer Entwicklung und führe zum Chaos. Das Staatsoberhaupt Rußlands forderte den Obersten Sowjet der UdSSR auf, der gegenwärtigen Regierung das Mißtrauen auszusprechen. Er forderte außerdem eine außerordentliche Sitzung des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR, um die gegenwärtige Sowjetkonstitution außer Kraft zu setzen und die Rückgabe des Eigentums der Union an die Einzelrepubliken zu beschließen.

Anschließend solle Präsident Gorbatschow eine zweiwöchige Interimsfrist erhalten, in deren Verlauf er sich mit den Regierungen aller sowjetischen Republiken über ein Koalitionsorgan, möglicherweise in Form eines Krisenstabes, einigen solle, welches dann über die endgültige Zukunft der Union zu entscheiden haben.

Jelzin rief dazu auf, Fragen des Warenaustausches aus dem politischen Machtspiel herauszuhalten. Es gebe breite Kreise der Bevölkerung, Studenten und Pensionäre, die lediglich achtzig Rubel monatlich bezögen. Dies entspreche bei der heutigen Inflation nur noch einem Kaufwert von dreißig Rubeln. „Dies ist schon nicht mehr verdeckter, sondern der offene Hunger“, sagte Jelzin. Die russische Regierung könne sich mit einer solchen sozialen Situation nicht abfinden, sie sei bereit, sich mit den Obersten Sowjets aller Republiken in Verbindung zu setzen, um auf dem Weg zu einem neuen Unionsvertrag vorrangig eine Lösung dieses Problems auszuarbeiten.

„Ein unseriöses Spiel mit der Souveränität der Republiken“ warf der neue ukrainische Premierminister W. Fokin der Zentralregierung vor, es sei unverständlich, wie hartnäckig die Zentrale die neuen politschen Fakten im Lande ignoriere. Die Republikregierungen erführen von Verfügungen des Präsidenten zum Teil aus der ausländischen Presse. Besonders den letzten Erlaß des Ministerrates über Preiserhöhungen für einige Waren bezeichnete er als „kalte Dusche“.

Noch prinzipieller zeichnete der weißrussische Ministerpräsident W. Kebitsch die Situation: „Wenn wir heute hier von der Erhaltung der Union sprechen, müssen wir uns erst einmal fragen, was wir eigentlich erhalten wollen, denn die ,Union‘ existiert nur noch rein konstitutionell.“ Im Gegensatz zu Gorbatschows Vorwurf, die neue wirtschaftliche Oberhoheit der Einzelrepubliken gefährde die unionsweite Wirtschaftsreform, betonte Kebitsch, daß gerade durch das Vertrauen, daß die neuen Republikregierungen in höherem Maße genössen, ein Netz von Wirtschaftsverträgen möglich geworden sei, welches heute schon fast alle ehemaligen Sowjetrepubliken direkt, ohne Vermittlung der Zentrale, miteinander verbände. „Und plötzlich kommt da so ein Präsidentenukas, der die alten wirtschaftlichen Strukturen wiederherstellt!“ bezog sich Kebitsch auf einen Erlaß Gorbatschows vom Sommer über die unionsweite Erfüllung der Plannormen für das laufende Jahr. Kebitsch betonte, daß gerade diese Art der Reglementierung von oben dazu angetan sei, das Vertrauen der Republiken als Wirtschaftspartner zueinander zu untergraben: „Die neue Union muß von Geburt an ein Bund von Gleichen sein.“

Die Open-end-Debatte soll so lange dauern, bis sich der Oberste Sowjet der UdSSR auf eine Formel über den Fortbestand der Union geeinigt hat. Das beginnende Wochenende wird dafür gewiß noch benötigt.