: ÖTV: 10 Prozent mehr für Wessis
Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr hat Forderungskatalog vorgelegt Wulf-Mathies: „Öffentlicher Dienst ist keine Reservekasse für Vereinigungsopfer“ ■ Aus Stuttgart Erwin Single
Die Forderungen für die Tarifrunde '91 im öffentlichen Dienst Westdeutschlands liegen auf dem Tisch: Lineare Einkommenserhöhungen um 10 Prozent für die 2,3 Millionen westdeutschen ArbeiterInnen und Angestellte bei Bund, Ländern und Gemeinden will die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV) bei den voraussichtlich im Januar beginnenden Tarifverhandlungen durchsetzen. Die Ausbildungsvergütungen sollen um 250 D-Mark steigen.
Ein entsprechender Forderungskatalog wurde am Dienstag mit großer Mehrheit von der Großen Tarifkommission der ÖTV in Plochingen verabschiedet. Die Forderung nach einer 10prozentigen Lohn- und Gehaltsanhebung wird auch von den weiteren fünf DGB-Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, der Bahn- und Postgewerkschaft, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Polizeigewerkschaft sowie der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft mitgetragen. Die Gewerkschaften verlangen zudem, daß das Ergebnis der Tarifverhandlungen zeitgleich für die ingesamt 1,8 Millionen Beamten übernommen wird. In den fünf neuen Bundesländern, wo derzeit über eine Anpassung der Lohnstruktur verhandelt wird, soll nach Abschluß der West- Verhandlungen ebenfalls eine Tarifrunde angesetzt werden.
Die Arbeitgeber bezeichneten die Forderungen als unrealistisch. Dadurch entstünden dem Staat Mehrkosten in Höhe von 28 Milliarden Mark. Die ÖTV-Vorsitzende Monika Wulf-Mathies argumentierte, daß die Einkommen im öffentlichen Dienst durch einen kräftigen „Nachschlag“ vom Konjunkturboom im bisherigen Bundesgebiet profitieren und Anschluß an die Einkommensentwicklung in der gewerblichen Wirtschaft finden sollten. Wie andere Gewerkschaften hatte die ÖTV die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 38,5 Stunden durch einen dreijährigen Tarifvertrag mit bescheidenem Lohnzuwachs bezahlt — in diesem Jahr blieben lediglich 1,7 Prozent übrig. In den letzten Jahren hätten die öffentlichen Arbeitgeber bei sprudelnden Steuereinnahmen ihre Haushalte zu Lasten der Beschäftigten konsolidiert, erklärte die ÖTV- Chefin. Bei den Bediensteten nicht nur in Krankenhäusern, im technischen Bereich, bei Polizei, Bahn oder Post sei die Stimmung äußerst angespannt: Sie fühlten sich überlastet und unterbezahlt und verwiesen auf den drohenden Nachwuchsmangel durch zuwenig finanzielle Attraktivität. Die Einsparungen bei den öffentlichen Haushalten seien in Wahrheit vorenthaltene Löhne, die die Gewerkschaft jetzt einfordere. Die öffentlichen Dienste könnten nur konkurrenzfähig bleiben, wenn es eine leistungsgerechte Bezahlung gebe, so Wulf-Mathies. Der Beamtenbund und die DAG hatten bereits kräftige Gehaltserhöungen von 10,5 bzw. 9,5 Prozent gefordert.
Die ÖTV-Vorsitzende verwahrte sich dagegen, mit den Einkommen der Beschäftigten Haushaltslöcher stopfen zu wollen. Der öffentliche Dienst sei keine „Reservekasse für lohnpolitische Vereinigungsopfer“. Die Beschäftigten seien nicht bereit, sich zu „Sündenböcken einer verfehlten Steuerdiskussion“ machen zu lassen, unterstrich Wulf-Mathies. Für die Tarifrunde kündigte sie an, die ÖTV werde sich nicht auf einen langen Verhandlungspoker einlassen, sondern den zur Durchsetzung der Forderungen notwendigen Druck machen.
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