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Die Ära des Kohlismus beginnt

■ Für die Deutschen wurde der KSZE-Gipfel in Paris zum Gipfel des Erfolgs

„Ich habe es irgendwann aufgegeben, eine Strichliste zu führen, aber mindestens die Hälfte aller Redner haben die deutsche Einheit in ihren Beiträgen positiv gewürdigt“, erkannte der Kanzler aller Deutschen, Helmut Kohl, zu seiner tiefen Befriedigung. Er hat es geschafft. Der Pariser KSZE-Gipfel ist ihm reiner Triumph, niemand, „auch keine Vertreter unserer unmittelbaren Nachbarn, wie zum Beispiel Ruud Lubbers aus den Niederlanden, auf die ich sehr genau geachtet habe, äußert noch irgendwelche Bedenken gegen die deutsche Einheit“.

Der mittlerweile auch auf außenpolitischem Parkett geschärfte politische Instinkt Kohls gebietet dem Mann aus Oggersheim aber, der früher kein Fettnäpfchen unberührt ließ, nun auf dem Zenit seiner Macht Großmütigkeit walten zu lassen und sich in der Kunst des understanding zu üben. Auf die obligatorische Frage nach der neuen Rolle der Deutschen im internationalen Kontext antwortet Kohl mit einer Weisheit seines politischen Großvaters Adenauer: Die Deutschen hätten die ersten 50 Jahre dieses Jahrhunderts hochgestapelt, nun empfehle es sich, die nächsten 50 Jahre lieber als Tiefstapler zu verbringen. „An diese Maxime werde ich mich tunlichst halten.“ Woran er sich tatsächlich hält, läßt Kohl in seinem Bericht über die Kulissengespräche mit anderen Mächtigen dieser Welt durchblicken. Niemand außerhalb Deutschlands zweifle daran, daß die Vereinigung eine ökonomische Erfolgsgeschichte ersten Ranges werde und Deutschland binnen kürzester Frist die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt sein werde. Neidvoll hätte ihm Maggie Thatcher vorgerechnet, mit welchen Steigerungen des Bruttosozialproduktes Deutschland in den kommenden Jahren kalkulieren könne. Während Kohl vor Zufriedenheit strotzt, sieht Genscher aus, als stünde er unmittelbar vor einem neuerlichen Herzinfarkt. Der vor Konferenzbeginn in einem Porträt noch als einer der Väter der KSZE hochstilisierte Außenminister scheint von der rasenden Entwicklung des letzten Jahres ausgebrannt und erschöpft. Außenminister stehen bei Gipfeltreffen immer im Schatten, und das Kommuniqué, die große Spezialität des Taktikers Genscher, ist schon fertig.

So bleibt es Kohl allein, der sich im Glanz der neuen deutschen Rolle sonnt. Wobei ihm der Umstand zugute kommt, daß seine Konkurrenten um die Star-Rolle in Paris alle mit großen Schwierigkeiten in ihren Ländern zu tun haben. Als Mitterrand am Montag abend zum Galaempfang lud, mußte sich sein Premier Rocard wenige Kilometer entfernt in der Nationalversammlung einem Mißtrauensantrag stellen. Maggie Thatcher mußte sich während ihrer Pressekonferenz am Montag pausenlos fragen lassen, wie sie sich als Regierungschefin auf Abruf fühle. Möglicherweise dürfe sie die Charta von Paris gar nicht mehr unterzeichnen... Für den US-Präsidenten war der KSZE-Gipfel nichts weiter als ein Treffen, bei dem sich zufällig viele Leute einfanden, die er in Sachen Golfkrise sowieso sprechen wollte. Initiativen oder Engagement von seiten der USA waren für die KSZE nicht auszumachen, Sie hatten einfach Wichtigeres zu tun.

Bleibt der Medienstar der letzten Jahre, Michail Gorbatschow. Er mutiert nach und nach auch international vom Helden zur tragischen Gestalt. In Paris mußte er bereits seinen Alleinvertretungsanspruch für die Sowjetunion verteidigen. Franzosen hatten Vertreter baltischer Staaten eingeladen und wollten sie zumindest mit einem Beobachterstatus an der Konferenz teilnehmen lassen. Offenbar mußte Gorbatschow erst mit seinem Auszug drohen, bevor Mitterand einlenkte und die Vertreter Estlands, Lettlands und Litauens doch vor der Tür blieben.

Während vor Jahresfrist Kohl noch geschmeichelt gewesen war, im Rahmen eines Gipfeltreffens der UNO beispielsweise, von Gorbatschow empfangen zu werden, scheint es nun fast andersherum. Da die deutsche Einheit auf dem Gipfel kein Thema mehr ist, kann sich Kohl ganz seiner neuen Lieblingsrolle als Retter der geläuterten Sowjetunion widmen. Er will nun die „enorme private Hilfsbereitschaft“, die in Deutschland für Gorbatschow da ist, in die richtigen Bahnen lenken. Ganz im Stil eines Rot-Kreuz-Präsidenten versichert Kohl, er habe Gorbatschow deutlich gemacht, daß dieser aber erst einmal garantieren müsse, daß die Spenden auch die Empfänger erreichen und nicht etwa in der Bürokratie hängen bleiben. Gorbatschow habe ihm zugesagt, sich persönlich darum zu kümmern — „wenn es Erfolg verspricht, werden der Präsident und ich die Schirmherrschaft für eine solche Aktion übernehmen“.

Bei soviel Engagement gerät ein Kollege ins Schwärmen: Ob Kohls Name bereits mit der Rettung des Friedensnobelpreisträgers 1990 verknüpft sei. Milde lächelnd winkt der Kanzler der Deutschen ab. Mit einem kleinen Seitenhieb auf den neben ihm zusammengesunkenen Genscher verkündet er grinsend, sein Name sei ja noch nicht einmal geeignet, mit einem „Ismus“ versehen zu werden. Warum eigentlich nicht: Ära des Kohlismus. Jürgen Gottschlich, Paris

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