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Ein Hauch von Mitleid

Thatchers Rücktritt löst Freude in den Straßen und Ovationen im Parlament aus  ■ Von Ralf Sotscheck

Über Tote spricht man nicht schlecht. Diese Regel beherzigten Politiker aus aller Welt, nachdem die britische Premierministerin Margaret Thatcher am Donnerstag ihren Rücktritt bekanntgab. Lediglich die arabischen Länder, der African National Congress (ANC), die Irisch- Republikanische Armee (IRA) und einige EG-Kommissare tanzten aus der Reihe. Die Regierungen im Nahen Osten glauben, daß mit dem Rücktritt der Kriegstreiberin die Chancen für eine friedliche Lösung der Golfkrise gestiegen seien. Im Internierungslager Long Kesh bei Belfast feierten die IRA-Gefangenen den Rücktritt mit stundenlangem Trommelwirbel auf den Zellentüren. Der ANC sagte, nichts sei schlimmer gewesen als Thatchers Politik gegenüber Südafrika. Und auch aus der Europäischen Kommission kamen kritische Stimmen. Ein Diplomat sagte: „Eine schwere Last ist von uns gewichen.“ Sein Kollege fügte hinzu: „Die Terrorherrschaft ist vorbei.“

Doch Thatcher wird wohl noch bis Donnerstag im Amt bleiben. Umfragen deuten darauf hin, daß bei der Wahl zur Tory-Führung am Dienstag kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichen wird. Für die Wahlwiederholung am Donnerstag, bei der die Stimmen des schwächsten Kandidaten übertragen werden, haben Außenminister Douglas Hurd und Finanzminister John Major einen Pakt geschlossen, wonach sie sich gegenseitig die Stimmen zuschustern wollen, falls einer von ihnen ausscheiden sollte. Hurd versucht, sich als Kandidat der „innerparteilichen Versöhnung“ zu profilieren. Außerdem wirft er angesichts der Golfkrise seine Erfahrung als Außenminister in die Waagschale. Major hofft auf die Stimmen des rechten Parteiflügels. Für Heseltine spricht, daß die Tories mit ihm die besten Aussichten bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr hätten. Die parlamentarische Fragestunde und der Mißtrauensantrag der Labour Party, der deutlich abgelehnt wurde, gerieten zur Galavorstellung Thatchers. Zum ersten Mal wurde ihr ein Hauch von Mitleid seitens der Opposition zuteil. Dafür gab es jedoch keinen Grund: Nachdem sie noch am Morgen in Tränen aufgelöst war, sprühte sie geradezu vor Humor und Angriffslust. Die Tory-Abgeordneten ehrten sie heuchlerischerweise mit stehenden Ovationen. Auf den Straßen Londons wurde unverhohlen gefeiert.

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