Was ist der Oberste Sowjet noch wert?

Das höchste Parlament in der Sowjetunion wird immer mehr entmachtet, klagen Kritiker/ Kritische Kritik Gorbatschows/ Ryschkow denkt nun endgültig daran, das Handtuch zu werfen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Als eine „Auftragsarbeit bestimmter Kräfte“, als „Versuch, die Demokratie zu erschüttern“, demgegenüber man „wachsam“ sein müsse, charakterisierte Gorbatschow am Freitag vormittag empört einen am gleichen Tage erschienenen Artikel des Parlamentsberichterstatters Pawel Woschtschanow in der 'Komsomolskaja Prawda‘, in dem das Kräftegleichgewicht innerhalb der UdSSR-Führung kritisch durchleuchtet wird. Der Auftritt des Präsidenten krönte einen Vormittag im Obersten Sowjet, der befürchten ließ, der vehemente Publizist behalte gerade mit seiner Hauptthese recht: Parallel zur Konzentration immer neuer Vollmachten für den Präsidenten ist die Krise des Parlamentes unübersehbar geworden. „Anatolij Lukjanow“, hieß es in der 'Komsomolskaja Prawda‘ über den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, „verfügt über eine einzigartige politische Begabung. Ihm ist gelungen, was noch vor einem Jahr unmöglich erschien — nämlich ein total lenkbares Unionsparlament zu schaffen“. Es blieb offen, wieweit es der entsprechenden Kommission des Obersten Sowjets im Laufe von sechs Tagen, während des Aufenthalts Gorbatschows in Paris, gelungen war, die Vorschläge des Präsidenten zur Umgestaltung der exekutiven Macht im Lande in konkrete Maßnahmen und Mechanismen umzusetzen.

Ein zweites Mal stellte sich die Mehrheit der Parlamentarier grundsätzlich hinter die Absicht des Präsidenten, die Exekutive zu übernehmen. Als aber eine Reihe von Abgeordneten forderte, auf der Stelle die Diskussion über die konkrete Gestalt der neuen Regierung und ihre vorrangigen Aufgaben aufzunehmen, und eine Abstimmung erzwangen, griff Lukjanow ein weiteres Mal in seine parlamentarische Trickkiste: Das Ergebnis von zweihundertundfünf Pro- gegen einhundertdreiundfünfzig Contra-Stimmen bei neunundvierzig Enthaltungen erklärte er unter Kopfschütteln und Gelächter der im Saale anwesenden Korrespondenten für ungültig, weil eine solch grundsätzliche Entscheidung der Zustimmung der Hälfte der Mitglieder des Obersten Sowjets bedürfe. Geduldig begnügte sich das Parlament damit, dem Präsidenten eine weitere Frist von zwei Wochen einzuräumen, in deren Verlauf er seine Vorschläge weiter präzisieren soll.

Die „Überregionale Deputiertengruppe“ erklärte letzte Woche die Frage der Vollmachten, der Geschäftsordnung und des Wahlmodus für die Abgeordneten der Parlamente im Lande als Gegengewicht zu der von Gorbatschow geplanten neuen Exekutive zum entscheidenden Punkt. Tatsächlich steht nicht nur der Ruf des Parlamentes auf dem Spiel, sondern der Glaube der Sowjetbürger an den Wert von Verfassungen überhaupt. Der Ruf nach frischen, initiativen Kräften in der Regierung führte erst im März dieses Jahres zur Gründung des Präsidialrates um Gorbatschow, der nun offensichtlich auf der nächsten Tagung des „Kongresses der Volksdeputierten“ im Dezember durch ein wieder neues Organ ersetzt werden soll.

Immerhin in einer Frage kam es am Freitag zu Klarheit, in der Frage nach dem „ausdrücklichen“ Rücktritt der gegenwärtigen Regierung, um die Gorbatschow vor einer Woche einen geschickten Bogen geschlagen hatte: Ministerpräsident Ryschkow erklärte der Nachrichtenagentur 'Interfax‘, daß er formell zurücktreten werde, sobald das neue Präsidentenprogramm akzeptiert ist.

Der Leningrader Oberbürgermeister Anatolij Sobtschak, der das Machtvakuum im Alltag seiner Verwaltung empfindlich zu spüren bekommt, erklärte unterdessen in einem Gespräch mit der taz, er habe Gorbatschow eine ganze Reihe konkreterer Vorschläge zur Verbesserung der Situation im Lande unterbreitet: „Die größte Gefahr sehe ich heute tatsächlich in der Kraftlosigkeit der zentralen Gewalt, denn wenn wir es nicht schaffen, unser Volk satt zu machen, dann besteht die Gefahr einer Rückkehr zum alten, totalitären Regime. Ich habe dem Präsidenten eine ganze Reihe konkreter Vorschläge zur Formierung neuer Machtstrukturen unterbreitet, um eine elementare Ordnung im Lande herzustellen. Und anfangen muß man damit, wieder alle Machtorgane und Behörden, die heute gegen die von den Sowjets verabschiedeten Gesetze verstoßen, für ihr Verhalten zur Verantwortung zu ziehen.“ Sobtschak hält dabei eine Verfassungsänderung nicht einmal für notwendig; die notwendigen Druckmittel seien schon jetzt vorhanden: Die Staatsanwaltschaft und die schon bestehenden Sondervollmachten des Präsidenten reichten aus. Wie die meisten Mitglieder der „Überregionalen Deputiertengruppe“ hält auch Sobtschak die grundlegende Anerkennung der Souveränität der Sowjetrepubliken für eine Voraussetzung einer neuen Union: „In den Fällen allerdings, in denen es unmöglich ist, die Ordnung herzustellen, wenn nationalistische Regierungen die Menschenrechte kleiner Minderheiten mit Füßen treten, sollten wir uns die Möglichkeit vorbehalten, die entsprechenden Staaten aus der Union auszuschließen.“