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Arrogant und entlarvend

■ betr.: "Der anachronistische Zug ist selbst anachronistisch" (Offener Brie von Renate Damus (Grüne) an Jutta Ditfurth (Grüne), taz vom 15.11.90

betr.: „Der anachronistische Zug ist selbst anachronistisch“ (Offener Brief von Renate Damus (Grüne) an Jutta Ditfurth (Grüne), taz vom 15.11.90

Erstaunt bin ich, von einer Sprecherin des Bundesvorstands der Grünen, einer Partei also, die sich ja irgendwann einmal Entwicklung und Durchsetzung nichtkapitalistischer Wege auf ihre Fahnen geschrieben hat, zu lesen, daß sie anderen „blinden Antikapitalismus“ vorwirft.

Mag sein, daß es eine etwas unglückliche Wahl ist, sich heute Brechts „anachronistischen Zuges“ zu bedienen. 1967 jedenfalls war dieses Thema durchaus passend und zeitgemäß. Im Prinzip sind Brechts Darstellungen über Herrschaftsstrukturen auch heute gültig, natürlich außerordentlich mehr verflochten (die Strukturen) mit in- und ausländischem Kapital, perfekt strukturiert und subtil organisiert. Direkte Unterdrückung wird verschleiert. Indirekt ist sie vor allem in der Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt mehr und mehr präsent. Nein, Brechts Worte sind noch aktuell.

Nicht ausbleiben durften ja Ausfälle gegen die PDS. Dieser Partei wird, wie hier, nicht einmal die Chance gegeben, sich zu erneuern, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. [...] Ich jedenfalls gewinne allmählich den Eindruck, daß die Grünen sich derzeit irgendwie vor einer anderen linken Kraft fürchten, wahrscheinlich vor allem im Hinblick auf Abwenderungen von Wählern in diese Richtung. [...] Frank Rosenberg, Freiberg

[...] Der „anachronistische Zug“ ist keine Wahlkampfaktion der PDS, sondern wurde von einem von der PDS unabhängigen Kreis von Westlinken initiiert. Als eine Aktionsform, die es sich in der theatralischen Umsetzung des Brecht-Gedichtes zur Aufgabe gesetzt hat, auf zunehmenden Nationalismus und Rassismus in Großdeutschland hinzuweisen, haben auch PDS-Mitglieder und Repräsentanten den Aufruf zu dieser Aktion unterschrieben. Daraus nun ein reines Wahlkampfspektakel für die PDS machen zu wollen, wird weder den InitiatorInnen und dem sonstigen Unterstützerkreis noch der PDS gerecht. [...]

Persönlich würde ich sogar etliches, was Renate Damus am „anachronistischen Zug“ kritisiert, teilen. Die etwas schlicht in Szene gesetzte Brechtsche Dialektik in Bezug auf die heutige Verfaßtheit des BRD- Imperialismus ist zwar nicht ganz falsch, trifft aber nicht sehr genau. So ging es mir zum Beispiel schon mit dem „anachronistischen Zug“ im Rahmen der Anti-Strauß-Aktivitäten 1980.

Diese berechtigte Kritik jetzt zu verbinden mit einer völlig platten, undifferenzierten Agitation gegen die PDS entspringt ausschließlich der allgemeinen Abgrenzungswut und Abgrenzungshysterie grüner Repräsentanten gegenüber einer linken Konkurrenz, die mensch scheinbar nicht ertragen kann. [...] Hans Hunglinger, Sprecher der PDS Linke Liste Bayern

Nürnberg

Renate Damus unternimmt den hirnrissigen Versuch, die grüne Position als zugleich antikommunistisch und antikapitalistisch zu definieren. Das kann nicht gutgehen.

Man kann zu Brecht, zu Ditfurth und zur PDS mit guten Gründen verschiedener Meinung sein, aber Anspruch auf ein Minimalniveau der Kritik sollte man ihnen schon zubilligen.

Muß die taz denn jeden Quatsch drucken, den irgendwelche WürdenträgerInnen von sich geben? Hajo Seidel, Frankfurt am Main

[...] Die Ausführungen der Grünen- Vorstandssprecherin sind in mehrfacher Hinsicht nicht nur eine demagogische Wahlpolemik. [...] Sie sind auch das erschreckende Zeugnis einer grünen Absage an eine radikale Analyse „schlechten Lebens“ (Adorno); und sie demonstrieren eine unvorstellbare Ignoranz gegenüber menschlicher Not beziehungsweise eine beschränkte Konzeption von Ökologie, in der die „innere Ökologie“, die Zerstörung menschlicher Natur, nicht mehr enthalten ist.

1.Brechts Gedichte, Texte und Stücke zeichnen sich dadurch aus, daß in ihnen Herrschaft, Unterdrückung, Ausbeutung, Zerstörung und Verkrüppelung menschlichen Lebens gerade nicht personalisiert, sondern gesellschaftsanalytisch und -kritisch bis an die Wurzeln ihrer Entstehung verfolgt werden. So auch in Der anachronistische Zug: Kirche und Kartelle, Medizin und Bürokratie, Parteien und Rechtsprechung, werden als gesellschaftliche Insitututionen angeprangert, denen Betrug und Unterdrückung, Mord und Raub nicht nur nicht fremd sind, sondern für sie zum Instrumentarium zur Sicherung von Macht und Herrschaft über Menschen gehören.

Wer sagt, diese „Parteigenossen“ hätten die gegenwärtigen Lebensverhältnisse nicht im Griff, sollte dort nachfragen, wo die vielen von ihnen gezeichneten und gequälten Opfer sich finden. Der Zynismus der Wohllebenden, den Frau Damus sich leisten kann, war Brecht jedenfalls nicht eigen. Sein Blick machte am eigenen Befinden nicht halt. Peinlich ist ihr Brief nicht — er ist arrogant und entlarvend.

2.Auch in unserer bürgerlichen Gesellschaft wird Herrschaft „qua Amt oder Stand oder Geburt“ ausgeübt, tagtäglich und mit schrecklichen Folgen für viele Menschen: Man/frau besuche nur ein Sozialamt, ein Arbeitsamt, ein Gericht, einen Betrieb, ein Krankenhaus... Der Trick, die „organisatorisch-institutionellen Strukturen“ verantwortlich zu machen, ist, als „Sachzwang“ populär ausgedrückt, beliebt. So haben die Angeklagten in den Naziprozessen argumentiert, so wird heute die grenzenlose Zerstörung von innerer und äußerer Natur begründet, so werden der Rationalisierung beziehungsweise dem Profit geschuldete Betriebsschließungen gerechtfertigt, so haben sich schon immer diejenigen vor der Verantwortung gedrückt, deren Handeln den Tod, die Not, das Elend anderer verursacht hat. Keine institutionelle Struktur, kein gesellschaftliches Verhältnis, kein Amt und keine Aktion geschieht ohne Menschen, ohne Subjekte, ohne ihr Wollen und ihr Wirken. Der Rundum-Exkulpation von Frau Damus wird viel Beifall gezollt werden von denen, die töten, die betrügen, die unterdrücken — Brecht sagt, wenn wir ihn noch einmal lesen, von wem.

3.Die PDS mag manches von dem sein, was Frau Damus ihr vorhält, und der Verzicht auf basisdemokratische Begründung und Absicherung von Politik und Programm macht es schwer, sie zu wählen. Eine Koppelung von Brechtschen — in Gedichtform gefaßten — scharfsichtigen und entschieden parteilichen Gedanken angesichts einer restaurativen Entwicklung zwei Jahre nach dem scheinbaren Untergang des Faschismus, einer — entweder absurden und/oder gezielt an parteipolitische Interessen gebundenen — Kritik an ihnen und einer Polemik gegen die Politik der PDS ist ätzende Demagogie: Die PDS ist böse; Brecht beziehungsweise eine radikale Sicht auf die herrschenden Zustände ist anachronistisch; also ist ihre Verbindung miteinander im „anachronistischen Zug“ anno 1990 beides. Der Trick ist alt und beliebt, aber er ist auch zu leicht durchschaubar.

4.Kein Mensch, der historisch denkt, wird von einem Wiederaufleben des alten Faschismus reden. Den Antifaschismus zu diffamieren bedeutet aber, seine Bedeutung für eine demokratische Entwicklung hierzulande in den letzten 40 Jahren völlig zu verkennen; es bedeutet ferner zu übersehen, daß faschistoide Denk- und Handlungsmuster sich in neuer, den aktuellen ökonomischen und politischen Strukturen angemessener Form unverkennbar herausbilden; und es führt dazu — in Verbindung mit einer gefährlichen Verniedlichung nationalistischer Tendenzen—, die ethnozentristischen, autoritären und gewalttätigen Formen von Reakton auf die Wanderungsbewegung aus den Ländern, die jahrhundertlang ihren Reichtum an die westeuropäischen Industrienationen fast kostenlos abtreten mußten, zu übersehen. In welchem Ausmaß faschistoide Strukturen in Menschen und Institutionen lebendig sind, haben zahlreiche Untersuchungen hinreichend belegt.

Die PDS mag nicht wählbar sein. Eine grüne Partei, die derart konsequent Abschied nimmt von einem gründlichen Blick auf und hinter die aktuellen Lebensverhältnisse, die derart entschieden für die Nutznießer dieser Verhältnisse Partei ergreift und aufgehört hat, es für ihre Opfer zu tun; deren Vorstandssprecherin an- und aufregendes selbst- und gesellschaftkritisches Denken durch billige Wahlkampfpolemik ersetzt; diese Partei ist noch weniger wählbar. Wenn das, was in dem Brief von Frau Damus zu lesen ist, die „gesellschaftliche Chance“ sein soll, die sie im Untergang des realen Sozialismus erblickt, dann wäre ganz dringend zu wünschen, daß es keine Gelegenheit gibt, sie zu nutzen. Dr. Günter Rexilius, Wuppertal

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