„Warum seid ihr so spät aus dem Wald gekrochen?“

Die Kandidaten der Grünen/Bündnis 90 Mecklenburg-Vorpommerns sind eine Woche vor der Wahl im nördlichen Greifswald auf Stimmenfang/ Reges Treiben an der Imbißbude/ Die Greifswalder fühlen sich von Kohl „verraten und verkauft“  ■ Von Bärbel Petersen

Ein viereckiges Zelt prägt an diesem Samstag den Marktplatz von Greifswald, eine der nördlichsten Städte Mecklenburg-Vorpommerns. Die Grünen/Bündnis 90 sind da! Aber bis auf ein Dutzend Leute an der Imbißbude neben dem Zelt scheinen die Greifswalder wenig Notiz davon zu nehmen. Seit Monaten ist die Stadt in aller Munde wegen ihres maroden Atomkraftwerks. Das AKW soll stillgelegt werden, und damit verliert ein großer Teil der 12.000 Beschäftigten den Job. Können die Grünen/Bündnis 90 heute nachmittag eine Alternative anbieten?

Im Zelt sind die aufgereihten Stühle gerade mal mit einer Handvoll Leuten besetzt. Dazwischen toben lautstark Kinder mit Luftballons und gelben Windmühlen in der Hand. Die meisten Besucher gehören dem Neuen Forum Greifswald an. Vor der riesigen Bühne, auf der Musiker für den guten Ton sorgen sollen, sitzen die drei Kandidaten der Grünen/Bündnis 90 Mecklenburg-Vorpommerns für den Bundestag: Lilo Wollny aus Gorleben, Klaus Feige aus Dummersdorf bei Rostock und Christoph Kelz aus Leipzig. Es ist saukalt, denn die Heizung blieb irgendwo auf der Strecke. Für Feige kein Grund, seine Jacke nicht doch auszuziehen. Die Greifwalder sollen sehen, daß er ein dickes Fell hat.

Den wenigen Zuhörern sagen die Drei nichts Neues. Feiges Forderung, für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn zu verlangen, wird zwar mit Applaus begrüßt, aber wie das anzustellen sei, läßt er offen. Überhaupt müsse ein Mindestlohn von 1.000 Mark festgelegt werden. Warum die roten Socken immer noch rumrennen, will einer wissen. Die hätte man eben schon im November verscheuchen müssen, antwortet ihm Kelz. Dem gebürtigen Leipziger liegt vor allem die Landwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns am Herzen. Er plädiert für einen ökologischen Umbau, der arbeitsplatzintensiv sei. Dabei denkt er an klein- und mittelständische Betriebe. Daß die Bauern schon jetzt ihre Produkte kaum loswerden, verschweigt er. Wer kauft schon ökologisch teures Zeug, wenn die EG-Waren wesentlich billiger sind? Feige verlangt deshalb eine Umbewertung der ökologischen Produkte. Einstimmig beteuern die Kandidaten, daß sie sich für Arbeitsplätze einsetzen werden, doch sie haben die Arbeitslosigkeit schließlich nicht verschuldet. Es sei eine Schweinerei, so Feige, daß man eine Stadt wie Greifswald von einem Kraftwerk abhängig gemacht habe. Er jedoch habe die Altlasten nicht zu verantworten. Alternativen könne aber auch er von heute auf morgen nicht bieten. Da greift ihm die Ärztin Rosemarie Poldrack vom Neuen Forum Greifswald unter die Arme, die seit Jahren gegen das marode AKW wettert. Sie entwickelt Vorstellungen, wo die Arbeitskräfte aus dem AKW dringender gebraucht würden. Die meisten hören überhaupt nicht zu und mampfen lieber Pommis oder trinken Büchsenbier.

Den Greifswaldern ist an diesem Nachmittag nicht nach großer Politik zumute. Sie fühlen sich von Kohl „verraten und verkauft“ und lassen ihrer Wut auf den Kanzler freien Lauf. Im Mai habe man ihn noch gewählt, „aber jetzt kriegt der keine Stimme von mir“, zürnt lautstark ein älterer Mann. „Eben deshalb müssen wir Kohl klarmachen“, ermuntert Feige den Redner, „daß schon einmal ein Volk eine Regierung weggefegt hat.“ „Wir müssen gegenhalten, und das können wir am besten im Bundestag“, erklärt er den inzwischen zahlreicher werdenden Besuchern. Wollny hakt nach, „mit der Stimme am 2.Dezember so geizig wie möglich umzugehen, denn ihr habt den Typen noch eitler gemacht“. „Warum seid ihr denn so spät aus dem Wald gekrochen und kommt erst jetzt zu uns nach Mecklenburg-Vorpolen“, will einer der Zaungäste wissen, der in voller Absicht Vorpolen statt Vorpommern sagt. Wollnys Argument, die Ost- und Westgrünen hätten sich erst zusammenraufen müssen, überzeugt nicht so recht. Wenn man sehe, wie CDU und PDS im Wahlkampf powern, sei das hier der Kampf Davids gegen Goliath, kommentiert ein Theologe diese Veranstaltung.