: „Die Verantwortung liegt beim Reichsbahn-Vorstand“
■ Der größte Kopfbahnhof der Welt, der Leipziger Hauptbahnhof, ist zur Wartehalle geworden/ In Berlin setzen die Angestellten auf Ausdauer
Der Münchner Geschäftsmann hat Bartstoppeln im Gesicht. Er wirkt fahrig. Verzweifelt stürmt er an die Auskunft der Streikleitung, stöhnt übermüdet: „Wie lange soll denn das hier gehen? Ich hänge hier seit zwölf Stunden auf dem Bahnhof rum. Kein Hotelzimmer in der ganzen Stadt. Wer bezahlt mir das, hä?“ Der Beamte versucht ihn verständnisvoll zu beruhigen. Doch der Fahrgast winkt nur verächtlich ab und verläßt demotiviert den Raum.
Der Leipziger Hauptbahnhof ist seit Punkt Null Uhr Endstation für alle Züge. In der größten Wartehalle Ostdeutschlands hocken polnische Reisegruppen, vietnamesische Leiharbeiter und gestrandete Fernreisende, die nicht voran und nicht zurück können. An sämtlichen Münztelefonen haben sich lange Schlangen gebildet. Die beiden Bibliothekarinnen Beyer und Gärtner, welche frohgemut gestern nacht nach Lüneburg reisen wollten, um dort einen Lehrgang beizuwohnen, sitzen um Mitternacht im D-Zug Dresden- Hamburg und lesen Zeitschriften. „Im Prinzip verstehe ich das. Aber man weiß ja viel zu wenig, was die Reichsbahner genau wollen, und ob das so berechtigt ist. Es geht halt nur immer zwangsläufig gegen die Leute, die auf die Reichsbahn angewiesen sind“, sagt Frau Beyer.
Für die Wartenden läuft seit Mittag eine Aktion des Sozialamtes, die mit Krippenerzieherinnen, Kinderarzt und Nudelsuppe in die Klubräume der Reichsbahner am Hauptbahnhof eingezogen sind, um wenigstens die Grundversorgung der Wartenden sicherzustellen. Die Amtsleiterin, Frau Pöhnisch: „Ich denke, wir richten uns besser mal auf einen längeren Arbeitskampf ein.“
Viele Kinderreisegruppen sind in Leipzig vom Streik betroffen. Die DRK-Station konnte nur fünfzig Leuten Unterkunft für die Nacht zur Verfügung stellen, zunächst einmal für die älteren Leute und Reisenden mit Kleinkindern. Unablässig hallt die nüchterne Ansage durch die Bahnhofshalle: „Es findet kein Zugverkehr statt. Der Zeitpunkt der Wiederaufnahme des Zugverkehrs ist ungewiß.“ Ansonsten spricht kaum einer der Streikenden mit den Reisenden. Der Zugbegleiter Heinz Prendel versucht sich zu rechtfertigen: „Was wollen wir denn machen, wenn die oben sich taub stellen? Ich kriege 540 Mark Grundgehalt, mit Überstunden vielleicht tausend Mark. Außerdem gab es etliche Neueinstellungen von Leuten aus der Hauptverwaltung, aus der Parteileitung. Soll ich mich jetzt wegen denen rausschmeißen lassen?“
Gestreikt wird nur von der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), die Gewerkschaft der Lokführer und die Gewerkschaft der Beamten der Bahn betrachteten die Verhandlungen noch nicht als gescheitert. Nichtsdestotrotz sitzen die Lokführer untätig auf ihren Maschinen. Bernd Müller, Lokführer aus Dresden, der den Zug nach Hamburg führen sollte, will noch bis zum Abend warten. Dann aber will er seine Sachen packen.
„Auf dem Rücken des kleinen Mannes...“
Im Streiklokal kulminiert der Unmut der Aufgehaltenen. Viele beschweren sich darüber, daß die Streikankündigung zu kurzfristig war, um noch umdisponieren zu können. Bundeswehrsoldaten lassen sich schadenfroh ihre Unterbrechung bestätigen, um danach in die „Mitropa“ zu verschwinden. Schadenersatzforderungen werden laut. Die Antwort ist immer gleich. „Wenden Sie sich mit ihren Forderungen an den Vorstand der Deutschen Reichsbahn. Und zwar möglichst sofort, damit die ein bißchen Druck kriegen.“ Aber soweit reichen die Überlegungen der Betroffenen zumeist nicht. „Ihr tragt das hier auf dem Rücken des kleinen Mannes aus“, beschwert sich ein Reisender. „Glaubt ihr, mein Arbeitsplatz ist nicht gefährdet. Euch geht's doch gut, ihr kriegt doch Zuschläge, was weiß ich.“ Der Beamte wiegelt ab. „Wir haben auch nicht geglaubt, daß es solange dauert, aber die wollen es uns wohl beweisen, beim Vorstand.“
Ein junger Vater mit seiner kleinen Tochter sucht den Zug seiner Frau, die aus Sczeczin anreisen wollte. „Der muß doch irgendwo stehengeblieben sein. Ich will sie auch dort abholen, aber ich kann doch nicht mit dem Stift hier zu Hause bleiben. Die hat keinen Krippenplatz. Nachher bin ich noch meinen Job los!“ Die Streikleitung ist willig, man telefoniert nach dem Zug. Die Desorganisation nehmen die Reichsbahner nicht auf ihre Kappe, Reichsbahn-Oberinspektor, Siegfried Hülle, Mitglied der Streikleitung, verteidigt den Arbeitskampf: „Wir sind überrascht gewesen, daß der Vorstand auf die Streikdrohung nicht reagiert hat. Die Urabstimmung, im Raum Leipzig mit über 90 Prozent, war ja wohl ein deutliches Zeichen. Nun muß der Vorstand für die entstandenen Schäden aufkommen. Wir versuchen, mit dem Sozialamt und der Volkssolidarität die Versorgung einigermaßen hinzukriegen. Aber wir können uns jetzt nicht verprellen lassen. Wir machen unbefristet weiter. Die Verantwortung liegt ganz allein beim Vorstand.“ Stefan Schwarz, Leipzig
Berlin, Hauptbahnhof: „Typisch Osten“
„Wie Sie nach Leipzig kommen? Na, mit'm Taxi!“ Lachen kann der Reisende, der schon eine ganze Weile durch die Empfangshalle des Berliner Hauptbahnhofs irrt, über diese Antwort nicht. Auf den Bahnsteigen herrscht Ruhe, Gepäckaufbewahrung und Fahrkartenschalter sind dicht. Auch die KollegInnen der Information haben sich in die Diensträume zurückgezogen, blättern in bunten Zeitschriften. Sie mußten am Sonntag abend den Frust der reisewilligen BürgerInnen abfangen. Mitternacht wurden auch ihre Schalter geschlossen, „damit uns die Leute nicht über die Balustrade springen“.
Viele Reisende haben nach und nach das Warten aufgegeben. Ein paar Unentwegte versuchen, den Streikposten hoffnungsvolle Informationen zu entlocken. Doch die können nur den Busverkehr gen Westen, Mitfahrzentralen und „gegenseitige Hilfe“ empfehlen. Demonstrativ verweisen sie auf die Anzeigetafel: „Auf Grund von Arbeitskampfmaßnahmen ist der Zugverkehr fernbahnseitig unterbrochen.“
Die Bitte um Verständnis stößt auf unterschiedliche Resonanz. „Typisch Osten!“ zetert eine vollschlanke Lederjacke. Doch auch von solidarischem Schulterklopfen wissen die Fahrkartenverkäuferinnen zu berichten. Ein älterer Mann kann die Eisenbahner, die Flugblätter gegen Massenentlassungen verteilen, voll verstehen. Aber er bezweifelt, ob solch ein Streik hilft: „Das verärgert doch nur die unschuldigen Bürger.“ In den Räumen der nichtstreikenden Gewerkschaftskonkurrenz sitzen mürrisch einige Lokführer: „Mit der Rot-Socken-Gewerkschaft wollen wir nichts zu tun haben!“ Der größte Teil der Belegschaftsbasis stehe gar nicht hinter dem Streik, erklärt einer von ihnen. Doch die Angestellten im Bahnhofsgebäude wollen notfalls bis Mittwoch durchhalten: „Die Post hat's doch auch geschafft.“ Irina Grabowski, Berlin
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