So überflüssig hat sich der Magistrat gemacht

■ Morgen tagt zum letztenmal die Stadtverordnetenversammlung/ Sechs Monate lang hatte Ost-Berlin eine frei gewählte Regierung, die zum Schluß völlig abhängig vom Westen war/ Verfassung wurde von ihren Autoren nicht ernst genommen

Rotes Rathaus. Aufgabe der neu zu wählenden Regierung der DDR sei es, sich schnellstmöglich überflüssig zu machen, sprach Walter Momper zu Anfang dieses Jahres vor Journalisten in Paris, obwohl den bis dato unbekannten Regierenden Bürgermeister eigentlich niemand danach gefragt hatte. Das Prinzip, in Sachen deutsche Einheit lieber ein bißchen mehr zu quatschen als zuwenig, beherzigte auch Mompers Bausenator Wolfgang Nagel. Zwei Tage, bevor die Ostberliner Stadtverordnetenversammlung Tino Schwierzina zum Oberbürgermeister wählte, verriet er einer Journalistin der 'BILD‘-Zeitung, was für ein großartiger Coup da geplant sei.

Nagel selbst, die Senatorin Sybille Volkholz und sein Kollege Norbert Meisner würden künftig in der ganzen Stadt regieren — quasi als Doppelminister im Kabinett Momper und gleichzeitig in der Regierung Schwierzina. Als der Ost-CDU- Fraktionschef Eberhard Engler am nächsten Tag das Boulevardblatt las, traute er seinen Augen nicht. Denn die Koalitionspartner der SPD, die gemeinsam mit den Sozis die Regierung bilden wollten, hörten von dem »Coup« zum ersten Mal. Engler war so sauer auf Tino Schwierzina, daß er damit drohte, die Koalition noch platzen zu lassen, bevor sie überhaupt ihre Arbeit aufgenommen hatte. Schwierzina stand da wie ein Trottel, mußte sich von seiner eigenen Fraktion anblaffen lassen und holte sich bei den Christdemokraten nichts als Watschen ab. Den ganzen Tag sammelte der Politneuling Schwierzina die Scherben ein, die der »Profi« Wolfgang Nagel im Porzellanladen Ost-Berlin hinterlassen hatte.

Doch Schwierzina beschwerte sich nur zögernd bei seinem Amtskollegen Momper, er machte keinen Aufstand in der West-SPD, er nahm die Schuld sogar auf sich. Den gescheiterten West-Import gab er als seine Idee aus — Walter Momper, der geistige Urheber des geplatzten Deals, blieb dagegen stumm. Hätte die Sache geklappt, wäre die Rollenverteilung sicher anders gewesen: Schwierzina hätte sich artig im Westen für die personelle Hilfe bedankt, und Momper hätte ein Interview nach dem anderen über die geteilte Stadt und ihre unteilbaren Probleme gegeben. Wie auch immer: Walter Momper hatte klargestellt, wer sich hier überflüssig machen soll. Tino Antoni Schwierzina akzeptierte und kündigte an, nach seiner Zeit als Oberbürgermeister wieder im Rosengarten zu verschwinden.

Was aber sollte nun bleiben von der Revolution? Wenn schon das Bündnis 90 schon nicht in der Regierung war, einigte man sich in der Stadtverordnetenversammlung immerhin darauf, etwas auf dem Papier festzuschreiben. Binnen weniger Monate entwickelte das Parlament eine eigene Verfassung für Ost-Berlin — es wurde die modernste in Europa daraus. Kommunales Wahlrecht für Ausländer, aktive Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinitiativen in der institutionellen Politik und Fristenregelung bei Schwangerschaftsabbruch, um nur drei Bestandteile zu nennen. Alle Parteien, von CDU bis PDS, trugen diese Verfassung mit, jeder Ost-Parlamentarier war stolz darauf, endlich etwas ganz eigenes geleistet zu haben — ohne Amtshilfe aus dem Westen. Den meisten Westlern erschien die neue Verfassung überflüssig, für die West-CDU war sie ein regelrechtes Ärgernis. Den Ostlern war die Verfassung gerade deshalb so wichtig, weil sie das erste und letzte große Projekt von Regierung und Parlament war. Die Stadtverordneten hatten sich nicht verdünnisiert, sondern eine deutliche Spur hinterlassen. Zum Tragen kam die Verfassung dennoch nie. Der Geist des Herbstes 89 war darin zwar festgeschrieben, im Roten Rathaus wehte der Wind aber längst von Westen.

Der in der Verfassung enthaltene Hinweis auf die Runden Tische bekennt sich dazu, daß es neue, im Westen unbekannte Möglichkeiten gibt, gesellschaftliche Konflikte zu lösen. Diesen Hinweis hatte man spätestens bei der Räumung der Mainzer Straße vergessen. »Wenn wir alle Beteiligten an den Runden Tisch gesetzt hätten, bevor die Polizei eingesetzt wurde, hätten wir die Sache friedlich gelöst«, meinte die Stadtverordnete Bärbel Bohley Montag abend auf einer Podiumsdiskussion. Selbst wenn man nicht so optimistisch ist: Zumindest der Versuch hätte vom Magistrat gemacht werden müssen. Er hat an dieser Stelle kläglich versagt, hat den Geist der Ostberliner Verfassung geleugnet.

Hält man das Magistratsmitgliedern vor, kommt oft der Hinweis, daß man ja gar nicht mehr die Macht habe. Tatsächlich sitzen die SenatorInnen am längeren institutionellen Hebel. Ein Innenstadtrat Krüger hat keine Polizeihoheit, die hat Innensenator Pätzold. Aber welcher Innensenator würde eine Straße räumen lassen, in der lauter Runde Tische stehen? Auf diesen Gedanken ist Krüger gar nicht mehr gekommen. Es ist Wahlkampf, es gibt eine Parteidisziplin, er ist in die Regierungsmaschine eingebunden. Und er will auch nach dem 2. Dezember noch was werden. Als er sich nach dem Polizeieinsatz mit zaghafter Kritik zu Wort meldete, war es zu spät. Auch Thomas Krüger hatte sich zum richtigen Zeitpunkt überflüssig gemacht. Claus Christian Malzahn