: Rechtswidrige Praktiken bei Schering
Japanisches Tochterunternehmen des Chemiemultis unter Beschuß/ Arbeiterinnen wurden rechtswidrig Fehlzeiten angerechnet/ Trotz Gerichtsentscheids gibt es keine Entschädigungen/ Berliner Zentrale streitet jede Verantwortung ab ■ Von Martin Kempe
Fröstelnd standen Kyoto Nishimura und Sumie Fukuda gestern am frühen Morgen vor dem Hauptportal der Schering AG. Zusammen mit den anderen Mitgliedern einer japanischen Gewerkschaftsdelegation waren sie in den Berliner Wedding aufgebrochen, um die Schering-Beschäftigten in der Konzernzentrale mit Flugblättern darüber zu informieren, wie in der japanischen Tochterfirma des Chemiemultis mit den Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft umgesprungen wird. Die Resonanz war mäßig. Wortlos nahmen die meisten Schering-Beschäftigten das Flugblatt entgegen, während der herbeigeeilte Öffentlichkeitsreferent gegenhielt und neugierigen Passanten und Jornalisten eifrig versicherte, die ganze Geschichte sei von einer radikalen Betriebsgewerkschaft aufgebauscht und eigentlich schon längst ausgestanden.
Seit 1975, als sie ihren gesetzlich zustehenden Schwangerschaftsurlaub nahm, befindet sich Kyoto Nishimura, unterstützt von der Nihon Schering Betriebsgewerkschaft, mit ihrem Arbeitgeber, der Nihon Schering KK in Osaka, im Clinch. Denn in diesem Jahr konnte sie die in Japan berüchtigte „80-Prozent-Norm“ nicht erfüllen, die ab 1976 auch bei der 100prozentigen Schering-Tochter zur Voraussetzung für die Gewährung der jährlichen Lohnerhöhungen gemacht wurde. Auch Sumie Fukoda, Schreibkraft bei Nihon Schering, streitet seit langem um den ihr zustehenden vollständigen Lohn, seit sie vor Jahren wegen einer berufsbedingten Sehnenscheidenentzündung pausieren mußte und deshalb an der 80-Prozent-Norm scheiterte. So wie den beiden Frauen ging es vielen Beschäftigten, vor allem Arbeiterinnen, der Nihon Schering KK: Fehlzeiten, die nicht zur Sollarbeitszeit der Beschäftigten gehören, wurden von der Firmenleitung mit dem Ziel angerechnet, die Beschäftigten zum „freiwilligen“ Verzicht auf ihren Urlaub zu drängen.
Mit Erfolg, wie die Firmenleitung nun mitteilte. Denn inzwischen sei die Anwesenheitsquote im Betrieb deutlich gestiegen. Aus einer schnell zusammengestellten Information der Schering-Pressestelle geht hervor, daß die „80-Prozent-Klausel“ 1976 eingeführt wurde, weil die durchschnittliche Anwesenheit der Produktionsarbeiterinnen nur bei 64 Prozent gelegen habe. Angeblich mit Zustimmung der Gewerkschaft habe man daraufhin einen Haustarifvertrag geschlossen, wonach jährlich im April anfallenden Lohnerhöhungen nur an solche Arbeitnehmer ausgezahlt werden, die im Vorjahr mehr als 80 Prozent der offiziellen Arbeitszeit anwesend gewesen waren, eine Bedingung, die viele der rund 1.100 Beschäftigten, insbesondere die Frauen, nicht erfüllen konnten. Denn als Abwesenheit zählte nicht etwa nur selbstverschuldetes Fehlen der Beschäftigten, sondern nahezu alles, was ArbeitnehmerInnen in Deutschland selbstverständlich zu ihrem Besitzstand zählen: der tariflich zustehende Jahresurlaub, der gesetzliche Schwangerschafts- und Wochenurlaub, Fehlzeiten wegen Berufskrankheit, der den Frauen in Japan zustehende Menstruationsurlaub, unverschuldete Verspätungen wegen Verkehrsunterbrechungen und so weiter. Viele Arbeiterinnen, die die Anwesenheitsnorm nicht schaffen konnten, haben nach Angaben der Gewerkschaft inzwischen die Firma verlassen. Seit 1982, so verlautete nun aus der Managementetage des Berliner Konzerns, werde die „80-Prozent-Klausel“ nicht mehr angewendet.
Schon seit Jahren macht Nihon Schering mit seinen rechtswidrigen Praktiken und mit einem besonders harten Kurs gegen die Gewerkschaft in der japanischen Öffentlichkeit von sich reden. Die Gewerkschafter berichteten der taz, der Konzern habe seit der Übernahme der Fabrik 1974 eine gelbe Gewerkschaft, die eng mit der Geschäftsleitung zusammenarbeitet, hochgepäppelt, während Funktionäre und Mitglieder der Betriebsgewerkschaft systematisch bei Beförderungen und Prämienauszahlungen diskriminiert würden. Auch hier war der Konzern erfolgreich: Inzwischen ist die Betriebsgewerkschaft auf ein Häuflein von 60 Mitgliedern zusammengeschrumpft, während die zahme Konkurrenzorganisation rund 350 Mitglieder zählt.
Inzwischen wurden die Praktiken des Konzerns, nach einem jahrelangen und für die Gewerkschaft erfolgreichen Hürdenlauf durch alle Instanzen, vom höchsten japanischen Gericht für rechtswidrig erklärt und zur erneuten Verhandlung der Einzelfälle an die unteren Instanzen verwiesen. Aber anstatt die entstandenen Schäden vollständig zu ersetzen und die diskriminierenden Praktiken einzustellen, setzt Schering offensichtlich auf den Faktor Zeit. Schlichtungsverhandlungen zwischen Geschäftsführung und Gewerkschaft ziehen sich ergebnislos hin, und der Konzern wartet währenddessen auf eine nicht vor 1992 zu erwartende Entscheidung des Landgerichts von Osaka.
Die Betroffenen und ihre Gewerkschaft wollten nicht so lange warten und schlossen sich einer Gewerkschaftsdelegation ihres Dachverbandes an, die jetzt vor Ort, in Berlin, den Fall vortragen wollte. Aber auch hier stießen sie auf eine Mauer der Ablehnung. Vom Vorstand ließ sich niemand sprechen. Nur bis zum Pressesprecher konnte die Delegation vordringen, der den japanischen GewerkschafterInnen weismachen wollte, das Management der 100prozentigen Schering-Tochter in Osaka entscheide in allen Dingen vollständig autonom. Und auch der Betriebsrat mauerte gegenüber den KollegInnen aus Fernost: Die deutsche IG Chemie unterhalte ihre internationalen Beziehungen nur zur konzerntreuen Konkurrenzgewerkschaft. Deshalb komme ein Gespräch nicht in Frage. Betriebsratsvorsitzender Günter Patusch meinte zur taz, er könne sich schließlich nicht um jede Splittergruppe kümmern, die unangemeldet ankomme: „Das ist mir zu undurchsichtig.“
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