piwik no script img

■ Das Volk der drei Prozent

Über Parolen kann jeder verfügen. Stärker als gewöhnlich gilt dies für den Satz »Wir sind das Volk«. Ein Anspruch, den ideologisch zuerst die Herrschaftsclique der volkseigenen SED vertrat und der nur so polemisch an die Protagonisten des friedlichen Bürgeraufruhrs des letzten Herbstes übergehen konnte. Spätestens aber als der Satz von der CDU in die Lüge verkehrt wurde: »Wir sind ein Volk«, begann alles in einen Anachronismus überzugehen. Auf den versucht der Protestzug, der am 18.11. in Bonn startete und der heute in Berlin ankommt, mit dem Motto »Brecht statt Deutschland über alles« kritisch zu reagieren.

Ein vergleichbares Unternehmen gab es bisher nur zu den Wahlen 1980, als es galt, F.J. Strauß zu stoppen, was mehr dem Staatsmann Schmidt gelang, als den linken Aktivisten. So viel haben die Initiatoren begriffen. Jetzt zielen sie auf das Zentrum der staatlichen Repräsentation selbst. Das wäre in seiner Anachronizität heute tatsächlich zu treffen. Bietet doch die Helmut-Kohl-Werbung nach dem heute-journal eine Collage aus französischer, englischer, amerikanischer und jetzt auch russischer Hymne an, in deren Rhythmus ein Sattelschlepper mit der Aufschrift »Made in Germany« seine Kreise ziehen darf. Solch einen real existierenden Unsinn kritisierte Brecht schon 1947 in seinem Gedicht vom anachronistischen Zug: »Vornweg schritt ein Sattelkopf/ und er sang aus vollem Kropf: Allons, enfants, god save the king/ und dem Dollar, kling, kling, kling.«

Der heutige Zug erinnert also durchaus an die richtigen Zeilen, nur in der falschen Richtung. Nicht von Bonn nach Berlin führt der Weg, sondern von Berlin nach Bonn. Heino, Kohl und Commerzbank, die mit anderen den Zug begleiten, sind eben nicht dort, wo die Massen des Volkes sich aufhalten, sondern ein Völkchen, das nur in der Provinz überleben kann. Demokratie hat wie schon bei Brecht mit der democracy nichts zu tun, was vielleicht nur die PDS-Funktionäre begreifen, die neben den linken Paradiesvögeln Ibrahim Böhme (SPD) und Jutta Ditfurth (Grüne) für das Konzept zeichnen.

Die Schlußveranstaltung findet am Samstag 18 Uhr in Potsdam auf dem Platz der Nation statt. Dort sprechen Petra Kelling, Helge Sommerrock, Thomas Adler und Harald Hauser. Heute 18 Uhr unter anderem mit Willi Gern und Herrn Lederer am Alexanderplatz, wo Katarina Thalbach das Brecht-Gedicht rezitieren wird, und um 21 Uhr vor dem Reichstag, wo neben der nochmaligen Rezitation durch Hanne Hiob mehrere andere Redner zu hören sein werden. tojos

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen