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Nur noch Mainstream-Soße?

■ Radio 100 liefert sich wegen Pleite französischem Rundfunk-Kommerz-Trust NRJ aus/ Der Konzern hat in Frankreich 130 lokale Radios aufgekauft

Berlin. Radio 100, noch Berlins erstes freies Radio, verhandelt seit einigen Monaten mit dem französischen Sender Nouvelle Radio Jeunesse — NRJ (sprich: energy) — über eine Kapitalbeteiligung. Der Vertrag ist nahezu ausgearbeitet und kann jeden Moment unterschrieben werden.

Radio 100 begibt sich damit in die Fänge des aggressivsten, erfolgreichsten und von jeglichen Skrupeln unbeleckten Kommerzradios jenseits des Rheins. Noch in keinem Fall konnte ein von NRJ an- oder aufgekaufter Sender seine Identität auf die Dauer bewahren, noch stets verkam jeglicher Anspruch in der gleichen Soße von Pop, Werbung und hysterisch kurzen Ansagen.

Der Aufstieg von NRJ wird gemeinhin als große Erfolgsgeschichte verkauft. Man könnte es auch als Bankrottierung des freien Radiowesens bezeichnen. 1981 gab der frisch gewählte Präsident Mitterrand den unabhängigen Kleinstradios unter dem Motto »Nein zum Kommerzfunk!« ihre Freiheit, sprich: ihre Sendefrequenzen. Sofort gründet ein gewisser Jean-Paul Baudecroux, mit väterlicher Erbschaft wohlversorgt, seinen Sender NRJ. Das Konzept: ein junges Radio, das kompromißlos auf 100prozentigen Mainstream- Pop und maximale Sendequalität setzt. Texte haben Hausverbot, nur ab und zu ein Nachrichten-Flash: ein Radio ist dazu da, Kohle zu machen.

So setzt sich Baudecroux über das von den Sozialisten verhängte Werbeverbot für Freie Radios schnell hinweg, indem er drei Funktionäre der Sozialistischen Partei in seinen Verwaltungsrat aufnimmt und ihnen Mitbestimmung bei der Nachrichtengestaltung einräumt.

Als die Werbeeinnahmen zu fließen beginnen, baut NRJ sein Netz über ganz Frankreich aus (obwohl das Gesetz über Lokalradios ebendies untersagt) und verstärkt seine Sendestärke — bis zum 80fachen dessen, was ihm per Gesetz zugestanden worden ist. Die totgestrahlten Parallelfrequenzen protestieren bei der Nationalen Rundfunkkommission. »Übrigens war es ein Berater des Ministers, der uns gezeigt hat, wie man das Gesetz umgehen könnte«, erzählt Generaldirektor von NRJ, Max Guazzini, immer wieder gern. Guazzini ist Mitglied der Sozialistischen Partei.

Als die Regierung nach langem Zögern im Dezember 1984 droht, NRJ zur Einhaltung des Rundfunkgesetzes zu zwingen, indem es einen Monat lang verboten werden sollte, gehen (nach NRJ-Angaben) 300.000 Kids in Paris auf die Straße, um — ausgestattet mit Transparenten der NRJ-Werbeagentur — für ihr Radio zu demonstrieren. Die größte Jugendbewegung seit dem Mai 68.

Seither hat NRJ freie Bahn. Das Gesetz über Privatradios wurde in seinem Sinne geändert. Zumal NRJ im Gegensatz zu Radio Monte Carlo und dem luxemburgischen RTL brav im Inland seine Steuern zahlt. Nach und nach kaufen Baudecroux und Guazzini die übriggebliebenen Nichtkommerzsender auf oder lassen sie unter eigenem Namen, aber mit NRJ-Programmtyp weitersenden. 130 Radios gehören inzwischen zum NRJ-Netz. Das Nachtprogramm und die Nachrichten-Flashs werden zentral produziert, das restliche Programm simuliert lokale Besonderheit. NRJ organisiert Konzerte und Festivals, sendet per Satellit. Die Plattenfirmen fressen dem Sender aus der Hand, denn NRJ macht die Hitparade in Frankreich. Kein anderes Radio wird von den 15- bis 34jährigen so gehört wie NRJ — sechs Millionen HörerInnen täglich. In jedem Supermarkt, in jeder Tiefgarage tropft die penetrante Fröhlichkeit von NRJ (»La plus belle des radios«) von der Decke. Kein Wunder also, daß der Plattenkonzern CBS bereits ins Geschäft eingestiegen ist und Anteile am Pariser NRJ- Sender erworben hat.

Acht Jahre nach seiner Gründung geht NRJ an die Börse. Der Verkauf der NRJ-Aktien bringt Baudecroux 800 Millionen Francs an Kapital, 220 Millionen Francs Werbeeinnahmen (rund 70 Millionen Mark) im Jahr 1989. Der Reingewinn wird in diesem Jahr 107 Millionen Francs betragen. Beste Voraussetzungen also, um in ganz Europa auf Radio-Shopping zu gehen. In der Schweiz und Belgien sendet NRJ bereits, jetzt soll auch in Großbritannien und der Bundesrepublik Fuß gefaßt werden, koste es, was es wolle — denn der Werbemarkt ist längst transnational geworden. Alexander Smoltczyk (Paris)

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